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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Schweiß sei seinem Bruder aufs Gesicht getreten. Voller Entsetzen habe er den Zwerg angesehen, zerrte den Wicht in eine Ecke, stammelte nur vor sich hin, dass es doch nicht sein könne, wie er denn hierhergelangt wäre, was denn der Grund sei, ob er Münzen brauche …
    Melôt, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet, reagierte völlig ruhig darauf. Er wolle des Kaisers ellenchino werden.
    »Wie haben in diesem Land keinen Kaiser! Und was soll ein ellenchino sein?«, hatte darauf Marjodô entgegnet.
    »Was weiß ich! Ein Wort eben. Und wer bist du?«
    »Der Truchsess von König Marke.«
    »Auch nur ein Wort, in das du geschlüpft bist. Wie sonst kannst du mir erklären, dass ein Hirtenjunge aus Arkadien zum Truchsess eines britannischen Königs werden konnte?«
    Seit diesem Gespräch, das von Schrecken aber auch von Freude darüber geprägt war, dass sich anscheinend zwei ungleiche Brüder fern ihrer Heimat und Herkunft wiedergefunden hatten, gab es zwischen den beiden eine Abmachung: Für immer und ewig würden sie sich gegenseitig beobachtend verfolgen.
    Aus diesem Grund war Marjodô so erzürnt, als er Melôt vor seiner Tür fand.
    »Schlag mich nicht!«, bettelte Melôt.
    »Ich würde aber gern!«
    »Was du in deiner Kammer treibst, interessiert mich nicht. Ich wollte dir nur mitteilen, dass ich gesehen habe, dass Sir Tristan aus der Bibliotheca Tintajola, wie er diesen Saal des Staubes und der verblassenden Schriften gern nennt, Bücher gestohlen hat. Zwerge, wie ich einer bin, sitzen manchmal in Scriptorien unter den Pulten, nicht an ihnen.«
    »Was hat er?« Marjodô schaute Melôt skeptisch an.
    »Bücher gestohlen!« Melôts Bemerkung war ohne innere Regung. Er hatte sich aus dem Griff seines fraternus befreit und klopfte sich die Schultern ab, als wäre sein Wams beschmutzt worden.
    »Warum sollte er das getan haben?« Marjodô verfiel in Gedanken.
    »Was weiß ich? - Mehr wollte ich dir nicht sagen. Noch eine schöne Nacht. Deine Freundin interessiert mich nicht. Sie ist zu groß für mich.« Mit diesen Worten watschelte Melôt auf seinen nackten Füßen davon.
     
    Einen Monat lang Glück ~256~ Die Beschaffung der Tinte
     
    Als Isolde auch in der nächsten Nacht nicht auftauchte, wurde Tristan unru-. hig. Er konnte nicht wissen, dass der römische Gesandte seinen Aufenthalt auf Tintajol verlängert hatte und es dadurch der Königin unmöglich war, die Burg zu verlassen. Erst als Eminenz Carolus wieder von dannen zog, schaffte sie es spät in der Nacht, durch den Tunnel zu Tristan zu gelangen. Die enge Laubhütte, die er errichtet hatte, erschien ihr wie ein Schloss, die Stunden, die sie miteinander verbrachten, als unendliche Wonne.
    Einen ganzen Monat lang konnten sie sich auf diese Weise sehen und einander lieben. Manchmal froren sie in der Nacht, so eng sie sich auch aneinanderschmiegten. Isolde musste Decken und Felle mitbringen. Wie ein Kriegerweib, das Gefallene geplündert hatte, kam sie aus dem Erdloch hervorgekrochen.
    »Jetzt geht es nicht mehr länger«, sagte er eines Nachts zu ihr. »Wir dürfen den Bogen nicht überspannen. Morgen muss ich auf die Burg zurückkehren, und alle werden mich fragen, wie es in Londres war, und ich werde sie anlügen müssen. Dir zuliebe tue ich alles, dir zuliebe würde ich mich sogar selbst belügen.«
    Bevor sie sich trennten, besprachen sie noch, wie und wo sie sich weiterhin treffen könnten. Weil sie aber so müde waren, müde auch von der Liebe, die sie jeden Tag des vergangenen Monats genossen hatten, einigten sie sich, die nächsten Tage abzuwarten. Sie küssten sich zum Abschied, und Tristan schloss hinter Isolde die Erdluke, deckte sie mit faulem Laub und Gestrüpp ab und verwischte die Spuren zu ihrem Unterschlupf, zu dem sie schon einen schmalen Pfad ausgetreten hatten. Ermattet schlief er bis weit in den nächsten Tag hinein, sattelte in der späten Mittagssonne sein Pferd, band ihm die Satteltaschen mit den Büchern auf und ritt auf Umwegen durch den Wald bis zu dem Weg, der nach Londres führte. Von dort aus kehrte er nach Tintajol zurück. Die Wachen erkannten ihn schon von Weitem an der Wappenfahne, die er an den Speer gebunden hatte. Marke wurde benachrichtigt, und da der König seinen Neffen in den letzten Tagen immer mehr vermisst hatte, ging er ihm entgegen und hielt, im Hof des Haupthauses angekommen, sogar die Zügel seines Pferdes.
    »Du scheinst in ruhiger Gangart geritten zu sein, oder hast du unterwegs genächtigt?« Marke empfing

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