Tristan
Tristan, nachdem er mit der Hand über den trockenen Hals des Pferdes gewischt hatte, mit einem freudigen Lächeln. Tristan umarmte seinen Oheim und kniete vor ihm nieder, um seinem König seine Untertänigkeit zu zeigen. Marke bat ihn lächelnd, es nicht zu übertreiben, und fragte schalkhaft: »Und - hast du deinen Lehrer gefunden?«
Tristan war einen Moment lang verwirrt und wusste nicht, wen Marke meinte - bis es ihm einfiel. »Courvenal!« Er schlug sich mit der Hand leicht vor die Stirn. »Nein, nirgends, wo auch immer ich nach ihm fragte, er war in keinem Scriptorium, keinem Kloster, keinem Gotteshaus.«
»Wie sollte er auch«, sagte Marke, »er ist hier. Er war gar nicht in Londres, sondern bei einem Glaubensbruder in der Küstenstadt Caerleon, nur zwei Tagesritte entfernt, und kehrte schon vor einem halben Monat zurück.«
»Aber dann hätte ich doch …« - Tristan unterbrach sich, er hatte sagen wollen >von Isolde davon gehört<, fuhr aber geistesgegenwärtig fort: »… gar nicht so lange in Londres bleiben müssen!«
»Warum denn nicht? Es scheint dir gutgetan zu haben, so wie du aussiehst.
Du bist jung, und wer jung ist, liebt, und wer liebt, dem sieht man es an. Dir sieht man es an. Das freut mich für dich. Du hast es dir nach all den Strapazen verdient. - Und die Bücher? Hast du etwas bekommen?«
»Zwei Säcke voll.« Tristan war froh, das Thema wechseln zu können. »Ich werde sie gleich zur bibliotheca bringen.«
»Das hat Zeit. Jetzt lass uns erst einmal Courvenal suchen, er erwartet dich sehnlich. Dann zeige ich dir, welche Fortschritte wir im Ausbau der Burg gemacht haben, und heute Abend halten wir alle zusammen ein Mahl ab zur Freude über deine Rückkehr, denn ein wenig Sorgen um dich habe ich schon gehabt.«
Tristan war gerührt von den herzlichen Worten seines Oheims und zugleich beschämt. Was wäre, wenn er wüsste, wie es sich tatsächlich verhielt? Courvenal würde ihm sein schlechtes Gewissen wahrscheinlich sofort ansehen, und wenn die beiden Buchsäcke in die Hände einer der Mönche kämen, die sich um die bibliotheca auf Tintajol kümmerten - es war nicht auszudenken, was dann geschehen könnte.
»Lasst mich erst diese Bücher an einen geeigneten Ort bringen«, bat er deshalb scheinheilig. »Sie sind zu wertvoll, als dass ich sie irgendjemandem übergeben möchte. Es ist sogar eine Abschrift der Lieder Heinrichs von Morungen darunter, eines der besten aller Poeten, den diese Welt besitzt. Dieses Buch würde ich nur dir in die Hand geben oder der Königin. Ich bitte dich, das zu verstehen.«
Der König fühlte sich geehrt. Er schickte gleich nach zwei Knechten, die Tristan helfen sollten, und verschob das gemeinsame Treffen auf den schon angekündigten Abend. Courvenal hätte nun so lange gewartet, da käme es auf ein paar Glasstunden mehr auch nicht an.
Tristan atmete erleichtert auf. Er begleitete die Knechte zum Bibliothekssaal, in dem nur noch zwei Mönche über Abschriften an ihren Pulten saßen, und schickte sie unter dem Vorwand, er müsse für eines der Bücher, das er in Londres gekauft hätte, einen geheimen Ort finden, vor die Tür. Kaum war er allein, packte er die Bücher, die er mitgenommen hatte, aus und stellte sie an einen besonderen Platz. Dann klaubte er von den Schreibpulten im Scriptorium etwa zwei Dutzend Pergamentblätter zusammen, sodass die Kopisten es nicht merken würden, wenn ihnen das eine oder andere Blatt fehlte. Die losen Blätter verstaute er in der Schublade seines Pults, das ihm König Marke auf seinen Wunsch hin nach seiner Rückkehr aus Erui hatte einrichten lassen, weil Tristan einige der eruischen Lieder, die er als Tantris gelernt hatte, niederschreiben wollte. Marke erfüllte damals jeden seiner Wünsche. Es gab ja keinen Menschen auf dieser Erde, dem er dankbarer hätte sein können.
Die Pergamentblätter allein genügten Tristan nicht. Er hatte zwar auf seinem Pult auch ein Fässchen mit schwarzer Tinte und eines mit Sepia stehen. Doch er wollte auch Rot, Gold und Blau. Also stöberte er die Regale und Pulte der anderen scriptores durch, nahm sich hier und dort etwas, schüttete kleine Mengen oder auch Reste in leer stehende Fässchen um, verbarg sie in einem Holzkasten, den er hinter nur selten benutzten Folianten von Bibelabschriften versteckte, und verließ schweißgebadet den Raum. Niemand hatte ihn gesehen. Da bald der Abend nahte, musste er sich unbedingt erfrischen. Er eilte durch die Flure zur Kemenate, die er mit
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