Tristan
die Leute am Hof lieber unterhalten werden wollten als von Vorschriften und Anweisungen gemaßregelt, die der Truchsess ausgab, hörten sie dem Zwerg bereitwillig zu und glaubten ihm schließlich sogar die buntesten Lügen. Hinzu kam, dass Melôt behauptete, Marjodô könne sich an seine Kindheit und frühe Jugend gar nicht recht erinnern, weil er als kleiner Junge mit dem Kopf auf einen Stein gefallen sei. Das habe ihm seine Mutter so berichtet. Da Marjodô tatsächlich keine Frage nach seinen Kindjahren beantworten konnte und auch nicht die Fähigkeit besaß, fabulae zu erfinden, glaubten sie lieber jede Übertreibung, die aus Melôts Mund kam, so unwahrscheinlich sie auch klingen mochte.
Der Zwerg erzählte allen, er sei genau fünf Jahre jünger als Marjodô und habe irgendwann aufgehört zu wachsen, um den Schafen besser in die Augen zu sehen. Dabei lachte er jedes Mal. Deshalb sei er schließlich ein Hirtenjunge geworden! Auch als er älter geworden sei, habe er den Schafen und Ziegen kaum über den Rücken blicken können. Die Mutter sei ganz verzweifelt gewesen. Marjodô habe sich, weil er anscheinend das Klagen der Mutter nicht mehr ertrug, daher als Halbwüchsiger einem Handelszug angeschlossen und sei so nach Sicilia gelangt. Dort diente er in einem wohlhabenden Haus am Fuße des Ätna und war bald mit einem Hauslehrer der Familie befreundet, der ihn besonders gemocht hatte. Der Hauslehrer, Don Virgilio, brachte ihm Lesen und Schreiben bei. Als Gegenleistung musste ihn Marjodô nach den Lehrstunden zwischen den Beinen reiben. - So erzählte Melôt die Geschichte Marjodôs und behauptete, der selbst habe sie ihm eingeflüstert.
Und weiter noch: Als Marjodô alt genug gewesen sei, um über sich selbst zu bestimmen - und auf dieses >über sich selbst bestimmen< sei er besonders stolz -, habe er Sicilia verlassen, so behaupte ein documento, das noch niemand gesehen, und sich auf den Weg über die Berge gemacht. Dort, auf der anderen Seite der Welt, hatte er wohl vernommen, könne man bei den Germanen und Franken sein Glück machen. So geschah es auch. Marjodô war zwar keine ritterliche Erscheinung, hatte aber eine angenehme Gestalt, eine durchdringende Stimme und lernte schnell fremde Sprachen. Ein Jahr lang war er Stallmeister bei einer romanischen Familie unweit von Genevra, dann warb ihn ein saxe ab nach Gorelitz, um dort mitzuhelfen, einen Hof aufzubauen. Der saxe vergütete ihn aber nach den zwei Jahren, die Marjodô dort seinen Dienst getan hatte, so schlecht, dass er weiter gen Norden zog und über einen Handelsmann, dem er einen Sommer lang Untertan war, nach Britannien kam - und von hier an stimmte nun der Eigenbericht Marjodôs mit der phantasia Melôts überein.
Bei einer Versteigerung von Pferden wollte Marjodô einem Mann, der zufällig neben ihm stand, einen so wertvollen Rat gegeben haben, dass er dem Stallmeister König Markes empfohlen wurde. Der wiederum stellte ihn seinem König vor, und so wurde Marjodô nach etlichen Jahren, in denen er König Marke und der Burg trefflich gedient hatte, Truchsess, obwohl er von keiner adligen Familie abstammte. Aber Marke war das Vertrauen, das er zu einem Mann hatte, wichtiger als dessen Herkunft. Marjodô war ein geschickter Verwalter der Burg und fragte sich selbst off, von wem er dieses Wesen wohl mitbekommen hatte. Es war keine große Kunst, Ziegen zu hüten. Seine Mutter, die er nur als abgemagertes Weib in Erinnerung hatte, konnte ihm nicht viel gegeben haben. Aber vielleicht war es ja ein britannischer Ritter, der in Wahrheit sein Vater war - er würde es nie in Erfahrung bringen. Seinen neuen König verehrte er über alles, und Marke konnte an seinem Schlossverwalter bislang nie einen Makel finden. Deshalb hatte er ihm einige Monate vor seiner Heirat mit Isolde die Fünfstundenuhr geschenkt, da fünf Jahre vergangen waren, seitdem sie sich kannten.
Melôt hingegen war erst seit siebzehn Monden am Hofe König Markes. Ihn hatte irgendein Schiff ausgespuckt, er war plötzlich da, keiner wusste, woher er kam. Das passte zu seiner Narrenrolle, die er am Hof sofort übernahm, indem er als weissagender Kobold auf den Markttagen auftrat.
Marjodô hatte ihn anfangs auch nur als Fremdling, Narr und Spaßmacher wahrgenommen - und gleich wieder vergessen. Bis Melôt eines Tages vor ihm stand und zu ihm sagte: »Na, hast du deinen kleinen Bruder vergessen?«
Erst in diesem Moment, so behauptete Melôt seitdem, habe ihn Marjodô wiedererkannt. Der kalte
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