Tristan
Marjodô teilte. Vorsichtig öffnete er die Tür, in der Hoffnung, der Truchsess würde, wie er es manchmal nach den Tagesmühen tat, einen kurzen Schlaf nehmen. Tatsächlich fand er ihn schlummernd auf seinem Lager. Als Tristan leise seine Kleidertruhe öffnete, hörte er plötzlich einen Aufschrei Marjodôs, der offensichtlich erfreut war, Tristan wiederzusehen.
»Wie war’s in Londres, Freund?«, rief er aus und setzte sich auf die Bettkante.
»Gut«, sagte Tristan, »aber ich muss mich waschen, anziehen, gleich ist beim König ein Essen …«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Marjodô. »Dorthin gehen wir gemeinsam. Aber ich verstehe. Mach dich schön für die Schönste, die je in dieser Burg …« - er gähnte - »du hast mir gefehlt. Obwohl … ich muss sagen, auch ohne dich … gab es schöne Stunden.«
Tristan nickte nur und wollte mit den Kleidern unterm Arm die Kemenate verlassen, da sah er die Sanduhr. Sofort war ihm klar, wozu Marjodô diesen seltenen Apparat in ihrer Kammer aufgestellt hatte. Tristan sah auf sein Bett. Die Decken waren faltenlos darübergebreitet. Dennoch war es nur allzu wahrscheinlich, dass Marjodô es benutzt hatte.
»Ich hole dich ab, wenn ich mich im Badhaus gereinigt habe«, sagte Tristan schon auf dem Weg zur Tür. »Dann erzähle ich dir, was ich alles in Londres erlebt habe!«
Königliches Mahl ~257~ Königliche Jagd
Tristan berichtete Marjodô von Londres, was er sich in seinem Kopf zusammenreimen konnte. Auf seinen Reisen mit Courvenal hatte er genug Städte gesehen, um sich vorzustellen, wie es in Britanniens größter Stadt zuging. Verdreckte Straßen, windschiefe Hütten, Ratten, Frauen mit bunten Bändern, kleine Werkstätten, Juden, die Münzen tauschten, ins Gebet versunkene Mönche und Ritter, die zu viel Portwein getrunken hatten. Es habe oft geregnet, sagte er immer wieder, die Leute hätten in Öl getränkte Planen über ihrem Kopf getragen, und den Büchern bekomme dieses Klima besonders schlecht. »Welchen Büchern?« Marjodô lief neben Tristan her. »Die ich in Londres für Tintajol gekauft habe.«
»Und wo sind die Bücher jetzt?«
»Dort, wo sie hingehören, in der bibliotheca.«
»Dort, wo sie hingehörten«, wiederholte Marjodô langsam, als wäre er in Gedanken.
Tristan fiel sofort das anscheinende Missverstehen auf. Er erschrak ein wenig. Da er aber wusste, dass der Truchsess mit Büchern nichts zu schaffen hatte und einen Folianten nicht vom andern unterscheiden konnte, versuchte er, ihn abzulenken, indem er sagte: »Ja, es ist ein besonders wertvolles darunter, das habe ich versteckt, damit es nicht in falsche Hände gerät.«
In diesem Augenblick trat aus einer Tür eine Gestalt in einem Mönchsgewand. Es war Courvenal. »Was ist denn so besonders wertvoll?«, fragte er, in das Gespräch eingreifend, um gleich darauf seine Hände auszubreiten und zu rufen: »Mein Tristan, wie schön, dich gesund wieder unter uns zu haben.«
Nun ergab sich als Nächstes ein kurzes Gespräch über Tristans und Courvenals Abwesenheit von der Burg und darüber, dass sie sich von jetzt an wieder häufiger sehen müssten, da erreichten sie auch schon die Tür zu dem Saal, in dem der Festschmaus zu Ehren von Markes Neffe stattfinden sollte.
Der Raum war durch zahlreiche Lampen hell erleuchtet, und an dem langen Tisch saßen bereits der König und Isolde, zwei Ritter aus Markes engstem Gefolge, die Baumeister und ein Fremder, den Marke als Baron Gandin aus Erui vorstellte. Erst an diesem Tag mit seinem Schiff an der Küste gelandet, bleibe er nun für einige Zeit als Gast auf Tintajol. Der Baron sei, so habe er sich selbst präsentiert, durch seine Sangeskünste bekannt, und das würde ja in ihm, Tristan, gewiss die Neugier wecken. Alle verbeugten sich, wie es sich gehörte, dann sah Tristan Isolde kurz in die Augen. Er tat es ein wenig zu lange und wusste, dass Courvenal diesen Blick bemerkt hatte, weshalb Tristan seinen alten Vertrauten anschaute. Diesmal ruhten Courvenals Augen auf Tristan und gaben ihm zu verstehen, dass er keine Angst davor haben müsse, verraten zu werden. Aber er wisse alles.
Das Essen verlief artig, Marke hob hervor, dass Tristan soeben aus Londres mit wichtigen Büchern zurückgekehrt sei, und verkündete, wie froh es ihn mache, ihm als seinem wertvollsten Ritter gleich wieder eine bedeutende Aufgabe zuteilen zu können. Tristan stockte der Atem, als er das hörte. Doch dann sagte Marke, Tristan solle die morgen beginnende
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