Tristan
selbst. Für euch gibt es keinen Schatten, weil ihr keinen werfen könnt. Es gibt deswegen auch keine Ruhe für euch. Wenn du sie trotzdem suchst, findest du sie in den Schriften. Schau dich um. Sie sind voller Weisheit. Vergiss sie nicht, mein einziger Freund. C
Tristan brach in Tränen aus, als er die Zeilen wieder und wieder las, bis er sie unauslöschlich in seinem Kopf bewahrte. Dann zerriss er das Blatt in kleinste Fetzen und warf sie wie Schneeflocken in einen Korb beim Ausgang. Er fühlte sich so matt und müde, dass er nur noch ein Ziel hatte: sein Lager in der Kemenate. Es war ihm gleichgültig, ob Marjodô schnarchen würde oder nicht.
In einem der Flure begegnete er einem Knappen, der ihn geflissentlich grüßte.
»Kilian ist mein Name«, stellte er sich vor, »und Ihr müsst Ritter Tristan sein. König Marke hat mich für Euch abgestellt, seit Tagen suche ich Euch schon. Wo seid Ihr gewesen?«
»Bei den Büchern!« Tristan ging weiter und sah den Mann nicht an.
»Dort habe ich nie nachgeschaut.«
»Dort hättest du mich aber finden können.« Tristan ging weiter bis zu seiner Kemenate, warf sich aufs Bett und schloss die Augen. So verschlief er die Ankunft von Marke und Isolde am Hofe. Um Gottes Gerechtigkeit zu loben, wurde eine Messe abgehalten und danach eine Feier angesetzt. Zu beiden Festlichkeiten erschienen weder Isolde noch Tristan. Für viele Wochen sollten sie sich von da an nicht mehr begegnen.
Walther ~282~ Variationen
Obwohl ihn die Sehnsucht quälte, begab sich Tristan, um fortzusetzen, womit er begonnen hatte, am nächsten Morgen gleich nach dem Beten und Essen ins Scriptorium. Die wenigen Mönche und Archivare, die dort arbeiteten, beachteten ihn nicht. Sie waren über ihre Bücher und Abschriften gebeugt. Ein Mönch, der die Aufsicht über die Bibliothek hatte, hatte seinen Platz am Ende des Saals und verbrachte die meiste Zeit damit, auf einer Bank zu schlafen. Er hieß Fredericus, war schon hoch in den Jahren, und Tristan kannte ihn gut. Da nur Bruder Fredericus sich in der Ordnung der Bibliothek auskannte, musste Tristan ihn an diesem Vormittag wecken.
»Fredericus«, sagte er und rüttelte den alten Mann an der Schulter. »Mein Gott! Ist es schon wieder Abend?« Fredericus fuhr hoch. »Noch nicht ganz«, sagte Tristan lächelnd. »Du kannst gleich weiter auf den Sonnenuntergang warten, wenn du mir vorher verrätst, wo du ein Buch von einem Walther von der Vogelweide untergestellt hast.«
Bruder Fredericus war sofort hellwach. »O ja!«, sagte er. »Frau Courvenal war kürzlich hier und hat mir einen Lederband gebracht, den ich für Euch aufbewahren sollte. Er ist noch gar nicht eingeordnet, liegt hier irgendwo. Schön gestaltet, eine Abschrift, und, wie mir bei einer ersten Durchsicht schien, vom poeta selbst korrigiert. Wo ist denn dieses Luder? Wisst Ihr, ich glaube, dass die Bücher nachts auf Wanderschaft gehen. Die Bibelausgaben stehen immer zusammen, bleiben bei ihren Kommentaren. Ähnliches gilt auch für die Gesetze. Das sind die Schwarten mit den endlos langen Erläuterungen, eine langweiliger als die andere. Doch die Legenden und Sprüche, die Lieder und Versdichtungen, ob Übersetzung oder nicht, die scheinen ständig unterwegs zu sein, suchen sich immer wieder neue Nachbarn. Entweder sie sind neugierig aufeinander, oder sie messen sich. - Da ist er ja, der Walther, deutsche Verse, die ich nicht verstehe, aber sie klingen interessant schon beim Buchstabieren.«
Der Mönch gab Tristan einen dünnen Quartband, der nicht mehr als vierzig gefaltete Seiten aus Bütten enthielt. Auf jedem Blatt stand eine Versgruppe, manche hatten Titel, andere nicht. Die Majuskeln der Anfänge waren nur spärlich verziert, die Ausläufer der literae ein wenig mit Blau oder Rot unterlegt. Bilder gab es keine. Die Verse waren sorgfältig abgeschrieben und auf Linien in gleichem Abstand gesetzt. Als Tinte war wohl Rußfluss oder Eisengallus verwendet worden, wie sie Tristan in den italienischen Werkstätten der Bibliotheken kennengelernt hatte. Neben den Versen wie auch darüber oder darunter waren einzelne Worte eingefügt oder auch halbe Sätze. Sie waren heller als die in der Abschrift, wohl mit Tusche notiert.
Tristan lief ein Schauer über den Rücken, als er sich mit dem Buch hinter sein Pult zurückzog. Auf die Seiten blickend, spürte er das Leben, das auf ihnen festgehalten war. Er ahnte in den Worten dieses Meisters der Lieder seine Hingabe zu alldem, was er
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