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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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beschrieb, und in den späteren Zusätzen und Korrekturen die Auseinandersetzung, die er mit sich selbst führte.
    O weh, wohin entschwanden alle meine Jahre
    War mein Lehen ein Traum oder ist es Wirklichkeit
    Von solchen Sätzen wurde Tristan gefangen genommen. Dann achtete er auf die Veränderungen: alle meine Jahre war durch meine Jugend ersetzt, oder ist es durch in der, sodass die Verse nun lauten konnten:
    O weh, wohin entschwand meine Jugend
    War mein Lehen ein Traum in der Wirklichkeit
    Außerdem waren durch offensichtlich spätere Zusätze in blauer Tinte nochmals die Wörter wohin durch weshalb und in der zweiten Zeile das War durch ein Ist ersetzt. Demnach musste es heißen:
    O weh, weshalb entschwand meine Jugend
    Ist mein Leben ein Traum in der Wirklichkeit
    Das Weshalb hatte Walther - kein anderer konnte es getan haben, dessen war sich Tristan gewiss - wieder durchgestrichen und ein Nie darüber notiert. Mit der gleichen Sepiatusche hatte er zwischen Leben und ein das Wort deshalb eingefügt. So gelesen ergab sich eine vierte Variation:
    O weh, nie entschwand meine Jugend
    Ist mein Leben deshalb ein Traum in der Wirklichkeit
    Tristan legte einige der Pergamentbögen, die er nach seiner vermeintlichen Rückkehr aus Londres in einem Kasten hinter einer Buchreihe versteckt hatte, auf sein Pult, stellte Tinte und Schreibzeug bereit und begann, aus den verschiedenen Fassungen der Verse diejenige niederzuschreiben, die ihm am besten gefiel und in der er sich selbst am ehesten wiederfand. Wenn es ihm passte, fügte er auch neue Wörter ein oder sogar ganze Verszeilen, sodass ein derart stark verändertes poema entstand, dass man es fast neu nennen konnte. Er war darüber so erregt, dass er allmählich das Wichtigste in seinem Leben vergaß, nämlich Isolde. Über viele Tage hinweg fertigte er nun solcherart Gedichte an, schrieb sie aber nicht nur einfach auf das Pergament, sondern verzierte etwa die Großbuchstaben des Aufgesangs, unterlegte einzelne Buchstaben mit goldener Tinte oder fügte an den Zeilenrändern feine Zeichnungen von Efeu- und Weinranken hinzu. Kaum war er morgens aufgestanden, begab er sich schon in die bibliotheca. Er war wie in einem Rausch. Am Nachmittag sah man ihn manchmal im kleinen Garten unter den Bäumen umhergehen und hörte ihn Verse vor sich hin sagen. Er kannte inzwischen all die neu aufgeschriebenen Lieder und Sprüche auswendig und rezitierte sie nicht nur, sondern begann auch, Melodien für sie zu finden.
    Waren die Wörter und Verse noch eine Welt für sich, bekamen sie mit der Stimme und mit der Melodie eine neue Dimension. Sie galten einer anderen Person. Mit jedem Lautwerden der Wörter im Gesang rückte seine Liebe zu Isolde wieder näher an ihn heran. Das Bedürfnis, ihr seine Entdeckung vorzutragen, wurde so stark, dass er den Besuch eines fränkischen Bischofs dazu benutzte, ganz offiziell ein kleines concerto anzubieten. Der Bischof war entzückt von der Idee, Marke konnte sie nicht abwenden, und Isolde gab durch ein Kopfnicken ihr Einverständnis.
    Der Abend kam, es wurde reichlich gegessen, dann zeigte er den Anwesenden seine Pergamentblätter, die er mit bestoßenem Leder hatte aufbinden lassen, und sagte zu Marke, wie froh er sei, ihm endlich einmal das unschätzbar wertvolle Büchlein des Heinrich von Morungen zeigen zu können, das er damals aus Londres mitgebracht habe. Ob Marke sich noch daran erinnere. Der König nickte nur und bestaunte wie die anderen die Kunst der Verzierungen und die schöne Schrift. Nun griff Tristan nach seiner italienischen Laute und begann zu singen. Keiner der Anwesenden verstand die alemannischen Verse. Tristan führte ihren Sinn durch kurze Erläuterungen ein. Sobald er aber zu singen anfing und die Laute dazu mit allerhöchster Geschicklichkeit spielte, endete jedes Lied im Applaus der Zuhörer.
    Einige Verse übersetzte Tristan direkt ins Britannische. So etwa: »Ihr Haupt war so schön, als sei es mein Himmel.« Bei anderen hielt er sich lediglich mit wenigen Worten auf, es gehe da etwa um duftende Blumen oder die Macht der minne. Für sein letztes Lied aber, das in einem Refrain endete, den die Franken so gern hatten, betonte er, sich genau an die Worte des Dichters zu halten, und sang:
    O weh, nie entschwand meine Jugend
    Ist mein Leben deshalb ein Traum
    Von dem was vor ihr war und nach ihr folgt
    Bei diesen Worten brach Isolde in Tränen aus. Sie musste ihr Gesicht hinter den Händen verbergen und flüchtete sich in die

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