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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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geben, was er den ganzen Tag über getan hatte. »Das ist mein Geheimnis«, sagte er Floräte einmal, »und Geheimnisse sind dazu da, nicht verraten zu werden. Das muss man üben, ein Leben lang. Genau wie den Speerwurf.«
    Floräte wurde aus den Worten des Jungen nicht schlau und erzählte Rual davon, dem sie ebenfalls Rätsel aufgaben. »Was, vor allem«, fragte er sich, »hat ein Rätsel mit einem Speerwurf zu tun?«
    In dem Jungen ging etwas vor, das spürte Rual. Einmal verfolgte er ihn, als er nach dem Morgengebet aus dem Haupthaus der Burg lief in Richtung der Mauer hinter der Schmiede. Dort, wo die Wände der dicht stehenden Häuser nur noch einen Spalt freigaben, durch den sich höchstens ein Kind durchquetschen konnte, verlor er den Jungen. Aufgrund der Kenntnisse, die Rual von der ganzen Burganlage hatte, versuchte er sich vorzustellen, wohin Tristan entwischt sein konnte. Aber er fand nirgends eine Lösung, die ihm weiterhalf. Der geheime Ausgang aus der Burg kam nicht infrage, von ihm wussten nur Linnehard, er selbst und Floräte. Wo also war der Junge geblieben? Und was sollte die Geschichte mit dem Speer?
    An einem dieser Nachmittage, als der Junge wieder einmal nicht zum Essen erschien, hatte sich Rual voller Unruhe auf seine Bettstatt gelegt. Hinter seinen geschlossenen Augen war Tristan aufgetaucht mit einem Schwert in der Hand, mit dem er auf Rual einschlug. Es war ein Spiel, das war sofort klar. Tristan verbeugte sich, wie es sich gehörte, artig vor seinem Gegner Rual und entfernte sich von ihm mit gleichmäßigen Schritten, die er rückwärts ging. Rual hielt dieses ehrfürchtige Verhalten für übertrieben, vor allem weil sein Gegner doch ein Kind war. Da nahm er wahr, dass Tristan in gegebenem Abstand von ihm stehen blieb und einen Speer in der Hand hielt. Es war nur ein Stock mit einer Spitze, doch diesen Speer schleuderte Tristan auf Rual und traf ihn damit in die Schulter. Der Marschall, der gerade noch seinen Sohn ermahnen wollte, so etwas nie wieder zu tun, verspürte einen Schmerz und erwachte. Der Schmerz war real, stammte aus einem früheren Kampf, von einer Wunde, die eine Narbe hinterlassen hatte - doch mit Tristan hatte das nichts zu tun. Der Junge war verschwunden.
    Rual lag schwitzend auf seinem Lager. Ihm war bewusst, dass er nur geträumt und ihm der Traum zugleich die Augen geöffnet hatte. Er beschloss an diesem Nachmittag, dass er sich aufmachen musste, um für Tristan einen Erzieher zu suchen. Weder Floräte noch er selbst hätten von Stund an den heranwachsenden Jungen im Guten beeinflussen können. Ein Fremder musste diese Aufgabe übernehmen. Floräte und er waren dem Kind zwar wie leibhaftige Eltern, doch Tristan war Blancheflurs und Riwalins Sohn und würde es immer bleiben, der rechtmäßige Erbe des Königreichs Parmenien. Der Entschluss, für den Jungen einen nur dem höchsten Maßstab gerecht werdenden Lehrer zu finden, beruhigte ihn so, dass er darüber in tiefen Schlaf versank.
     
    Vor der Mauer ~63~ Das wilde Meer
     
    Tristan wusste, dass Rual ihm bisweilen heimlich folgte, wenn er sich nach dem Morgenessen auf den Weg machte unter dem Vorwand, in einem entlegenen Winkel der Burg das Speerwerfen zu üben. Es gäbe da einen Flecken hinter einigen Hütten, hatte er Rual weisgemacht, da sei er ganz allein, und sogar Hasen gäbe es dort, auf die er mit dem Speer oder mit Pfeilen zielen könne. Doch diesen Ort würde er keinem verraten, nicht einmal seinem Vater.
    Um Rual abzulenken, wählte er vom Brunnenplatz aus immer eine andere Richtung zur Burgmauer und suchte sich bei den Häusern oder hinter Büschen Verstecke, in denen er so lange ausharrte, bis er davon ausgehen konnte, dass Rual zum Haupthaus zurückgegangen war. Erst dann schlich Tristan auf Umwegen zu dem Verschlag hinter den Hühnerställen und wartete ab, bis die Wachsoldaten gen Westen weitergegangen waren. Bis die nächsten Wachen kamen, hatte er immer nur zwölf Glockenschläge lang Zeit, um in dem Erdloch, das zum Mauerschacht führte, zu verschwinden.
    Inzwischen benutzte Tristan den Fluchtweg mit solcher Geschicklichkeit, dass man hätte glauben können, er hätte ihn selbst angelegt. Die ersten Male noch war er gestolpert, abgerutscht, hatte die Sperre nicht richtig eingehakt und war sogar einmal auf halbem Weg nach unten in dem Schacht stecken geblieben. Nur mit Mühe hatte er sich wieder nach oben hangeln können, hatte Schürfwunden und blaue Flecken davongetragen und Floräte angelogen, er

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