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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Beute. Wäre Floräte nur ein einziges Mal bei einer solchen Jagd dabei gewesen, sie wäre vor Angst um ihren Ältesten gestorben. Tristan hatte sich ein regelrechtes Jagdgebiet erschlossen und war dadurch zu einer Bucht gelangt, der er den Namen »Hegennis« gegeben hatte. Dieser Name bedeutete nichts, er hatte ihn erfunden, und damit gehörte diese Bucht ihm ganz allein. Sie war ein stiller Ort, die Winde vom Meer brachen sich vor ihr an den Felsen einer überhängenden Klippe, und der Sand war ohne Steine. Hegennis war nicht groß, entweder über die Felswände oder vom Meer aus zu erreichen, aber anscheinend hatte sie niemand vor ihm entdeckt. Und nun hatte Tristan zu seiner Freude einen Tag, bevor Rual auf eine längere Reise gehen musste, in den Felsen einen von kleinen Bächen ausgewaschenen Pfad entdeckt, über den er die stille kleine Bucht schnell erreichen konnte.
     
    Das Versprechen ~65~ Yella, der Schatten
     
    Bevor er aufbrach, rief Rual Tristan zu sich. »Mein Sohn«, sagte er und nahm Tristans Hände in die seinen, wie um sie zu wärmen, »du musst mir etwas versprechen.« Tristan nickte.
    »Du musst mir versprechen, dass du, während ich auf meiner Reise bin, die Burg nicht verlässt.« Rual sah den Jungen prüfend an und bemerkte das kurze Erschrecken in seinem Gesicht. »Hast du mich verstanden?«, fragte er leise und versuchte, seiner Stimme einen vertrauensvollen Ton zu geben.
    Tristan starrte ihn an, antwortete aber nicht. Rual runzelte die Stirn. Plötzlich stieß Tristan einen Seufzer aus und sagte: »Und wenn ich ein Vogel wäre?«
    »Was wäre dann?«
    »Der Himmel hat keine Tore. Ich würde einfach über die Mauer hinwegfliegen. Dann könnte ich die Burg verlassen, oder?«
    Rual musste lachen. »Dann könntest du das«, sagte er gutmütig, ließ aber, nachdem Tristan gegangen war, Hauptmann Linnehard holen und schärfte ihm ein, die Wachen sollten nicht nur in die Ferne blicken, sondern auch darauf achten, ob sich jemand tagsüber am Fuße der Burg aufhielte. Außerdem ordnete er einen zusätzlichen Wachposten beim großen Tor an und befahl Yella zu sich. »Du wirst auf Tristan aufpassen«, sagte er ihm, »doch verhalte dich so, dass er nichts davon bemerkt. Folge ihm, wohin er auch geht. Beobachte ihn und lass dich dabei nicht erwischen. Du greifst nur ein, wenn eine Gefahr für meinen Sohn bestehen sollte. Sobald ich zurück bin, erstattest du mir Bericht.«
    Yella war froh darüber, eine Aufgabe zugeteilt zu bekommen, und er wollte wissen, ob er auch die Herrin in Kenntnis setzen sollte, wenn etwas Verdächtiges geschehe.
    »Mit keinem Wort!«, herrschte Rual ihn an. »Du sollst der Schatten des Jungen sein und ebenso stumm. Ich bin der Einzige, der dir erlauben wird zu reden.«
    Buckelnd und Verschwiegenheit gelobend zog sich Yella zurück. Noch bevor die Sonne unterging, zog Rual mit einem kleinen Trupp davon, um für Tristan einen geeigneten Lehrer zu suchen. Von dieser Mission wusste nur Floräte.
     
    Muschelschalen ~66~ Ein Plan
     
    Es dauerte drei Tage, bis Tristan mit sich ins Reine kam. Er hatte dem Vater kein Versprechen gegeben. Aber er hatte auch dessen Warnung vernommen. Zwei Nächte lag er auf seinem Lager und hörte in seinen Ohren das Meer rauschen, das ihn rief. Er sah Hegennis hinter den geschlossenen Augen, die auch in der Dunkelheit immer wieder aufgingen, um die Bucht zu sehen. Doch da war nur Schwärze um ihn herum. Ich sehe besser, wenn ich die Augen zumache, dachte er. Gleich fand er sich auf dem felsigen Pfad, den er erst vor Kurzem entdeckt hatte, und seine Hände griffen in die Falten der schweren Wolldecke, als wären es Felskanten und unbelaubte Äste, an denen er sich festhalten musste, um nach unten zu kommen, nach unten zum Meer. Bevor er es, mit den Füßen unter der Decke strampelnd, erreichte, beruhigte er sich im Schlaf, streckte sich aus und glaubte, dabei den Sand zwischen den Zehen zu spüren, den er sich sonst immer, wenn er vom Meer zurückkam, heimlich abspülte, um sich nicht zu verraten. So erwachte er jeden Tag glücklich und voller Sehnsucht.
    Am dritten Tag hielt er es nicht mehr aus. Er ging am Morgen mit seinem Speer in der Hand zum Tor hinunter, grüßte die Wachen und verschwand seitlich zwischen zwei Hütten in Richtung der westlich gelegenen Mauer. Wie er den Pfad entlanglief, vorbei an den Ställen mit Schafen und Ziegen, merkte er, dass er in der Eile, die ihn trieb, die falschen Schuhe angezogen hatte, jene nämlich, die er sonst

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