Tristan
Danach erhob er sich, tastete um sich, stieß gegen eine Wand, die nachgab, ein Tor, hinter dem ihn plötzlich der helle Tag blendete. Sofort schloss er die Augen, öffnete sie blinzelnd und erhaschte gerade noch das flüchtige Bild einer kleinen Gestalt, die auf den Wald zulief. Das konnte niemand anderes als Tristan sein. Yella merkte sich die beiden Bäume, zwischen denen Tristan verschwand, dann besah er sich seine Hände. Sie bluteten. An den Füßen waren seine Stiefel abgerissen. Auch dort sah er Blut. Und mit der Wahrnehmung seiner Wunden kamen die Schmerzen. Er blickte zu den beiden Bäumen. Tristan war nicht mehr da.
Yella rannte los. Seine Verletzungen waren ihm gleichgültig. Er war jetzt ein Jäger.
Wellen ~75~ Berührung
In den Beutel, ein zusammengeknüpftes Tuch, hatte Tristan hineingetan: Käse, getrocknetes Fleisch, fünf Eier, wie immer in der Brühe gekocht, die Merla jeden Tag aufsetzte, und einen Kanten Brot. Mehr hatte er dieses Mal für Ortie nicht beiseiteschaffen können. Doch da sie sich Fische fing, die sie roh aß, und Algen kaute, war sie zusätzlich mit dem, was Tristan ihr brachte, gut versorgt.
Tristan aß mit ihr zusammen. Dann übten sie Speerwerfen, rannten um die Wette durch den Sand und die Brandung, und Ortie brachte ihm Flechten bei, was sie von ihrer Mutter und deren Schwester gelernt hatte. Mit Tristans Dolch schnitzten sie aus dem Treibholz Figuren, deren Formen von Wurzeln oder den Verzweigungen von Ästen vorgegeben waren, und erkannten darin Arme, die sich gen Himmel streckten, oder Köpfe, die sich auf die Brust senkten.
Ortie sprach wenig, und Tristan machte sich ihr Schweigen zu eigen. Es gefiel ihm, nicht viel reden zu müssen und sich mit dem Mädchen trotzdem zu verstehen. Wenn sie in den auslaufenden Wellen des Meeres nebeneinanderlagen und vom Wasser aneinandergedrängt wurden, genoss er das aufregende Gefühl, einen anderen Körper zu berühren. Davon ging eine Lust aus, Ortie auch dann anzufassen, wenn sie gemeinsam im Sand saßen oder auf einem Felsen.
Beobachtungen ~76~ Maßnahmen
Das alles beobachtete Yella von oben, von den Felsen aus. Er sah zwei Gestalten, die in der Bucht umherrannten, Speere warfen, mit Pfeil und Bogen schossen, zusammen aßen und Hand in Hand auf und ab gingen. Kein einziges Wort drang an Yellas Ohr, er hörte nur das Rauschen der Brandung, aber er spürte es förmlich, dass die beiden sich etwas zuriefen und lachten, und konnte auch erkennen, wie sie beim Gehen einander die Köpfe zuwandten. Es ärgerte ihn, von diesen Gesprächen ausgeschlossen zu sein. Gern hätte er gewusst, worüber sie sich unterhielten, und wäre wahrscheinlich maßlos verwundert gewesen, dass es zwischen Ortie und Tristan kaum einen längeren Wortwechsel gab. Sie tauschten Blicke, wandten einander das Gesicht zu. Tristan sagte, es sei schön hier, und Ortie antwortete darauf mit einem Seufzer.
»Mutter?«, sagte Tristan. »Denkst du an deine Mutter?«
»Im Wasser«, antwortete Ortie, drehte den Kopf dem Meer zu und zog Tristan an der Hand den Wellen entgegen. Tristan hielt das Mädchen zurück, er hatte Angst um Ortie. In den darauffolgenden Tagen, immer wenn er an den kleinen, halbmondförmigen Strand zurückkam, befürchtete er, seine Freundin dort nicht mehr zu finden. Stets sah er zuerst aufs Meer hinaus, wenn er den Felsen erreichte, suchte es nach dem Mädchen ab, und dann lachte sein Herz, wenn er sie unten in der Bucht entdeckte.
Drei Tage lang machte Yella dieses Spiel mit. Er folgte Tristan durch den Schacht und beobachtete die beiden bei ihrem Spiel am Meer, kehrte aber wie ein Pilger oder Soldat durch das Tor in die Burg zurück. Er konnte sich nicht entschließen, zur Marschallin zu gehen und ihr von Tristan und dem Mädchen zu erzählen, weil er fürchtete, sein Geheimnis preiszugeben, seine Kenntnis von dem verborgenen Schacht. Er wusste, dass er in diesem Fall getötet werden würde, damit niemand von dem Ausstieg erfuhr.
Gleichwohl musste er handeln. Yella ging zu Linnehard und bat ihn um eine Rotte von sechs Bewaffneten aus seiner Wachmannschaft. Er habe gehört, dass sich an der Küste Leute aufhielten, die dort nichts zu suchen hätten. Das ließ Linnehard aufhorchen. Er wollte keine Nachlässigkeit begehen und stellte deshalb, wenn auch widerwillig, sechs seiner Wachleute unter Yellas Befehl.
Am nächsten Tag schlich sich Tristan wieder aus der Burg davon. Yella ließ ihm einen Vorsprung. Gegen Mittag holte er die
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