Tristan
Aufstehen.
Verabschieden?, dachte Tristan. Er konnte sich nicht erinnern, dass sein Lehrer ihm gestern etwas vom Beginn einer Reise erzählt hatte. Seine Sachen gepackt? Welche Sachen? »Reiten wir ans Meer?«, fragte er und blickte zu Courvenal auf, sah aber dessen Gesicht nicht. So weit hatte der Mönch die Kapuze über den Kopf nach vorn gezogen, dass Tristan in der Höhlung nur helle Flecken und ein Paar blitzende Augen erkennen konnte.
Der Wachsoldat berührte ihn an der Schulter, gab ihm einen sanften Stoß, sagte gleichzeitig: »Kommt, Herr, wir wollen keine Zeit verlieren!«, und Tristan sah, dass Courvenal sich schon zum Gehen wandte. Er stolperte hinterher und musste, da die Soldaten und auch sein Lehrer in einen raschen Schritt verfielen, fast ein wenig laufen. So eilten sie durch den langen Flur und traten durch das Tor gegenüber dem Eingang zum Saal auf den Hof, wo im sich bereits abschwächenden Licht der überraschend zwischen Wolken hevorbrechenden Sonne zwei Pferde standen und Rual und Floräte warteten. Sonst war niemand da, der Hof war leer, nirgendwo spielten Kinder, seine Brüder waren nicht zu sehen, keine Marktleute, keine Mägde, keine Reiter.
Tristan sah, dass am Lastgurt des kleineren Pferdes, auf dem er schon öfter geritten war, ein Speer, ein Bogen und eine Rohrtasche mit Pfeilen steckten. Der Rücken des Pferdes war mit einer blau-roten Schabracke bedeckt, wie sie auch die Pferde der Ritter trugen, die sein Vater Rual in den Kampf führte. Courvenals Ross war genauso geschmückt. Hinter den einfachen Ledersätteln lagen geschnürte Bündel, wohl mit Decken und einigen Kleidern in grauen Leinensäcken.
Tristan staunte, als er all das bemerkte. Er wollte fragen, warum der Hof so menschenleer sei, als Floräte auf ihn zutrat, niederkniete und ihn umarmte, ihn an sich drückte und ihm ins Ohr flüsterte: »Komm wieder, mein kleiner Held, und befolge jeden Rat deines Lehrers. Vergiss mich nicht!« Sie löste sich von ihm, Tristan sah Tränen in ihren Augen, doch ehe er sich noch darüber verwundern konnte, stand schon sein Vater vor ihm und umfasste mit seinen beiden rauen Händen seinen Kopf, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die Stirn. »Ich wünsche dir eine gute Reise. Hüte den Schatz unserer Liebe in deiner Seele, er sei dir wie eine goldene Kugel, die niemals ihren Glanz verliert. Bleib immer tapfer und sei mir ein wahrer Sohn!« Er küsste ihn nochmals, dann ließ er Tristan los und befahl in nüchternem Tonfall: »Ihr müsst los. Es wird Zeit.
Wir wollen nichts riskieren. Gurmûns Ritter könnten schneller hier sein, als wir glauben. Geht mit Gott und Gott gehe mit Euch!«
Tristan wurde von einem der Soldaten gepackt und aufs Pferd gesetzt, Courvenal saß schon auf seinem Ross, er hob den Arm, gab ein Zeichen, das wie eine flüchtige Segnung aussah, und ehe Tristan noch begreifen konnte, was mit ihm geschah, trabten die beiden Pferde dem Burgtor entgegen, dessen Flügel sich wie von Geisterhand öffneten und die beiden Reiter hinausließen auf den Weg, der zu den Wäldern gen Süden führte, dorthin, wo alle herkamen und auch alle, die nur kurz auf Conoêl weilten, wieder hinwollten.
Courvenal ritt in schneller Gangart voraus, sodass Tristan damit beschäftigt war, ihm zu folgen, und gar keine Zeit mehr fand, sich nach seinen winkenden Eltern umzublicken und später auch nicht mehr nach der Burg. Als sollte ihm der Abschied leichter gemacht werden, zogen wieder dunkle Wolken vor die Sonne, und es fing an, dicke Tropfen zu regnen.
Die Reise beginnt ~93~ Der Feuerdrache
Courvenal stieß leise Verwünschungen aus. Das von der Küste her aufziehende Unwetter erwischte sie, noch bevor sie an der Waldgrenze das schützende Blätterdach erreichen konnten. Er hasste es, wenn seine Kutte durchnässt wurde und tagelang nach feuchter Wolle, Stall und Tier roch, er hasste sogar später noch die Erinnerung daran, als er, schon um viele Jahre älter geworden, längst die Kutte abgelegt hatte und wie jeder am Hofe, an dem er einst leben sollte, sich an luftige Beinkleider und ihm auf den Leib geschneiderte Hemden gewöhnt hatte.
Zu jener Zeit, als er mit seinem Zögling auf die lange Reise ging, war ihm gar nichts anderes möglich, als den Mönchsrock zu tragen, jeweils einen von zweien - das war die Kleidung, mit der er sich begnügte. Nur nass werden durfte sie nicht! Deshalb hielt er jetzt in vollem Galopp auf den Waldrand zu und sah sich nur einmal kurz nach
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