Tristan
staunte.
»Und jetzt«, unterbrach Courvenal die Gedanken seines Schülers, »folgen wir dem Lauf des Baches, solange es noch hell ist, spießen uns zwei Fischchen auf und schlagen uns den Bauch voll.«
Solange es noch hell ist - Tristan fiel zum ersten Mal auf, dass es schon weit nach Mittag sein musste. Kaum hatte Courvenal das Wort »Fischchen« ausgesprochen, verspürte er auch schon einen gewaltigen Hunger. »Mir läuft das Wasser im Mund zusammen!«, sagte er.
»Natürlich!« Courvenal lachte. »Du hast Hunger. Aber keine Angst. In ein paar Tagen schon sieht alles ganz anders aus. Du wirst sehen. Unsere Reise hat erst begonnen. Und vergiss nicht«, fügte er hinzu und schwang sich auf sein Pferd, »non iam existimus. Wir sind frei. Als Nächstes werden wir unsere Kleider wechseln. Komm!« Er schlug seinem Pferd die Fersen in die Flanken und wollte wie ein übermütiger Knappe voranreiten.
Doch plötzlich, als wäre der Blitz in ihn gefahren, riss er die Zügel zurück, das Pferd bäumte sich auf, Courvenal brachte es zur Ruhe, sprang aus dem Sattel, nahm die Ledertasche ab und durchsuchte sie hastig. Dabei schimpfte er leise, schnürte die Tasche wieder zu und sah eine Weile sinnend vor sich hin. »Mein Heft«, sagte er schließlich wie zu sich selbst, »mein drittes Narratio-Heft fehlt. Darin sind die letzten zehn Tage aufgezeichnet, die wir geritten sind, darin sind unsere Reiseroute, meine Pläne mit dir, die Namen der Freunde, die wir besuchen wollen.«
»Was für ein Heft?«, fragte Tristan, der die letzten Sätze nicht verstanden hatte.
»Ach, nichts. Nur ein Heft aus Papyrus. Ich hatte nach unserem - meinem Forellenessen noch ein paar Eintragungen gemacht.« Courvenals Stimme wurde wieder leiser, sodass Tristan sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. »Wichtige Eintragungen allerdings. Und dann muss ich vergessen haben, es zurück in die Tasche zu stecken. Aber es war nicht unter den Sachen - oder hast du etwas bemerkt«, wandte er sich beunruhigt an Tristan, der ihn von seinem Pferd herab ansah, »hast du bemerkt, dass wir mit den anderen zerstörten Sachen ein Heft aus Papyrus in die Grube geworfen haben?«
»Aus Papyrus war nichts dabei«, sagte Tristan kleinlaut, »ganz gewiss nicht.«
»Dann muss es sich in Luft aufgelöst haben. Wenn nur nicht - aber von denen ist bestimmt keiner des Lesens mächtig. Und außerdem gilt immer noch: Maleparta male dilabuntur. Wenn sie’s haben, werden sie’s wegwerfen. Mörder können nur morden, nicht wissen. - Also gut, reiten wir weiter. Der Schatten des Geschehenen wird uns helfen, die Sonne zu meiden.«
Courvenal stieg wieder auf sein Pferd, und Tristan folgte ihm verwundert. So merkwürdige Worte hatte er noch nie aus dem Mund seines Lehrers gehört. Warum sagte Courvenal kein Wort darüber, wer diese Männer gewesen waren? Und wie kam es, dass der Mönch zu singen begann - ein Lied, das Tristan zu kennen glaubte und gleichwohl noch nie gehört hatte?
Fünftes Buch
DIE VERFOLGUNG
Kapitel 100-115
Die drei Gestalten ~100~ Das Heft, der Tod
Die drei nächtlichen Gestalten, die Courvenal und Tristan in ihrem Zelt überfallen hatten und glaubten, sie getötet zu haben, ritten nach ihrem Gemetzel den Weg, den sie gekommen waren, zurück, bis sie die Straße erreichten. Erst ließen sie die Pferde langsam gehen, denn im Wald war es noch immer stockfinster. Sie beugten sich auf die Hälse der Pferde hinunter, damit sie nicht mit dem Kopf gegen Äste stießen. Die Tiere waren unruhig, schnaubten und wieherten leise, als spürten sie die Gefahr des Straucheins in dem unwegsamen Gebiet. Doch kaum waren sie vom Waldrand weg nach Nordwesten abgebogen, ließen die Wolken wie auf Befehl das Mondlicht frei, die Reiter konnten sich aufrichten und die Pferde eine schnellere Gangart anschlagen.
Sie ritten, bis Beitin, der Anführer der Gruppe, das Gefühl hatte, nun seien sie von dem Zeltplatz der beiden Parmenier weit genug entfernt. Er gab Cedric und Kian, seinen beiden Begleitern, ein Zeichen, sie stiegen ab, führten die Pferde in eine von Büschen bestandene Senke in der Nähe eines Wasserlochs abseits der Straße und schlugen dort ihr Lager auf. Da es kalt geworden war, machten sie Feuer. Der teerige Docht, an dem Beitin die Feuersteine aneinanderschlug, glimmte schnell, und die trockenen Späne, die sie immer in einer der Satteltaschen mitführten, begannen bald zu brennen. Als Erstes wuschen sie sich die Asche vom Gesicht, mit der sie
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