Trojaspiel
vom Rand der Plattform, auf der wir standen, die Reste der alten Gerberei in helles Licht tauchten. Die Gruben waren mit rotem Marmor eingefaßt, auf den Böden waren Mosaiken zu erkennen, die Schlacht- und Häutungsszenen zeigten. Der Rest des Raumes fiel ins Dunkel. Auf dem Boden standen einzelne Fässer und Bottiche herum. Ein merkwürdiges Gerät, das sich aus mehreren Walzen zusammensetzte, stand neben einem alten Gerberbaum, in dem ein rostiger Scherdegen stak.
Bianchis Augen begannen böse zu funkeln.
»Ein Mann, der etwa fünfzig Jahre alt sein mußte, stand damals vor unserer Tür. Aber er sah kaum älter aus als dreißig. Er nannte sich wie damals Timon Lubinski. Und in seiner widerwärtigen freundlichen Art – Freundlichkeit hat etwas Herablassendes, finden Sie nicht, wenn sie nicht erwartet wird, wenn sie nicht verlangt und nicht verdient worden ist –, in dieser beschämenden Unbefangenheit wirkte er sogar noch jünger als ich damals. Er sah stattlich aus, groß und blond, so, wie ich mir später immer diesen Agenten vorgestellt habe. Es gab einen Grund für seinen Besuch. Er wollte Geld, um ein Hotel zu kaufen. Es lag ihm sehr daran. Der ehemalige Sekretär behauptete, er habe dieses Hotel, es war in New York, einmal selbst gebaut. Mein Vater willigte sofort ein. Er war sogar bereit, ihm die Firma zu überschreiben. Damals wußte ich nicht, warum er sich so großzügig zeigte. Dann erfuhr dieser Lubinski, daß es zu spät für den Kauf war. Das raubte ihm die Fassung für eine Weile. Mein Vater gab ihm trotzdem etwas Geld. Der Sekretär blieb noch eine Weile bei uns in Rom. Die beiden verstanden sich gut. Mich mieden sie. Ich wußte nichts über die Pläne unseres Gastes, aber er sprach davon, sich einmal auf einer griechischen Insel zur Ruhe setzen zu wollen.«
Bianchi drehte sich jetzt von uns weg und deutete mit dem ausgestreckten Arm in das Dunkel hinter der beleuchteten Gerberei.
»Und das dort unten war einmal sein Reich. Keiner außer ihm hat sich dort freiwillig hingewagt. Es war zu gefährlich. Es geht mehrere Stockwerke hinab. Nicht alle alten Gebäudeteile sind abgesichert. Es gibt Stollen, Tunnel und Gänge, die unter dem gesamten Esquilinviertel hindurchgegraben sind. Sie führen ins Nichts oder direkt in die Hölle. Im letzten Stockwerk steht das Grundwasser. Darunter werden Überreste eines östlichen Teils der Domus Aurea vermutet. Jenes riesenhaften Palastes, den Nero erbaut hat und der eine Fläche von achtzig Hektar besessen haben soll. Er erstreckte sich vom Palatin bis zum Esquilin und schloß auch noch Teile des Monte Cèlio ein.
Dort unten hat sich der Knabe Timon in seiner Freizeit herumgetrieben. Wie ein unterirdisches Wesen oder ein Tier, das sich versteckt. Das war, womit er sich eigentlich beschäftigte. Sein seltsames Hobby. Manchmal ist er, völlig verdreckt, erst nach ein paar Tagen wieder zum Vorschein gekommen.« Bianchi stützte die Hände in die Seiten und musterte uns herablassend.
»Es ist ein Labyrinth«, fuhr er fort, »das unterirdische Rom. Aus konservatorischen Gründen bleiben viele der Anlagen für die Öffentlichkeit verschlossen. In manchen von ihnen gibt es kostbare Wandmalereien, die allein vom Atem der Touristen zerstört werden könnten. Überall in dieser Stadt, wo jemand einen Spaten in den Boden sticht und ein wenig gräbt, werden neue Gänge entdeckt. Es ist ein unendlicher unerforschter Untergrund, über dem wir uns bewegen. So mancher Hausbesitzer hier hat seinen eigenen Eingang in die Unterwelt, und er hütet ihn wie einen Schatz. Irgendwann hat er einfach im Keller eine Wand aufgebrochen und einen Tunnel entdeckt, versteckte Kammern und Skelette, den Moder einer versunkenen Welt. Würden Sie so etwas verraten? Damit am nächsten Tag ein Heer von Touristen und Fotografen vor Ihrer Tür steht? Diese Stadt ist überlaufen von Reisenden, trotzdem weiß sie ihre Geheimnisse zu bewahren. Ein Geheimnis ist ein Privileg, es ist ein Ort, an den man sich zurückziehen kann, an dem man ungestört ist, etwas, das man mit niemandem teilen muß. Menschen brauchen so etwas, wenn sie überleben wollen.«
Bianchi wandte sich ab.
»Mein Vater hätte seines bewahren sollen. Er war ein immerhin respektabler Geschäftsmann von weit über siebzig Jahren. Aber in den nur zwei Wochen, in denen sein ehemaliger Sekretär unser Gast war, verwandelte er sich in einen vor Ergebenheit sabbernden Greis. Er hing förmlich an den
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