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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Seiten zu schneiden, in der Größe eines Kinderfingernagels. Für das kleinste Buch der Bibliothek, von ihm verfaßt, er schrieb es mit Hilfe eines in Tinte getauchten Eselshaares, genau vierundachtzig Worte, ein säuisches Gedicht in lateinischer Sprache, das er in der Bibliothek des Fürsten verbarg, der so prüde und gottesfürchtig war, daß er die Tischbeine im Schloß verhüllen ließ, weil es in seiner heimgesuchten Phantasie sich reckende Phalli waren. Die zwanghafte und sinnlose Aufsässigkeit jenes gelehrten Mannes, wie sehr ist sie mir vertraut!
       Noch weiter reicht das Band, bis hin zu denjenigen Vorfahren, die in keinem Stammbaum mehr verzeichnet sind. Denjenigen, die deutlich weniger Hirnmasse besitzen, den aufrechten Gang und den opponierbaren Daumen ihrer Werkzeughand erst seit kurzer Zeit in Gebrauch haben, rudimentäre Sprache ist für sie charakteristisch und jenes düstere Starren unter höhlenartigen Stirnwülsten hervor, das mein Vater zeigt, wenn er am Kamin sitzt. So wie sie am Lagerfeuer.
       Das aber ist noch immer nicht alles, denn alle unsere Familiengemeinsamkeiten, unsere Gewebe und Organe entstehen aus der Verkettung von gerade zwanzig verschiedenen Aminosäuren, den unscheinbaren Werksteinen des Lebens. Zwanzig Sorten Eiweiß, viel mehr gibt der Bauplan von keinem von uns her! Vielleicht rührt daher diese gerühmte und unauslöschbare Idee der Liebe, wenigstens als grundsätzliche Möglichkeit, das Ich bin Du , die Verschmelzung, weil wir ein Familienimperium sind, geschaffen aus dem gleichen Baukasten, seit zweihundertfünfzig Millionen Jahren, und deswegen letztlich Geschwister, alle, auch die Mörder und ihre Opfer, die Herrscher und ihre Untertanen, die Väter und ihre Söhne.
      
      
       »Sie glauben mir nicht?« fragte Bianchi amüsiert. »Zu dick aufgetragen? Meinen Sie denn, es ginge mir nicht genauso? Wer kann so etwas glauben? Oder ertragen? Ja, nicht ertragen kann ich diese Schande unserer Familie! Aber geben Sie doch zu – auch das Unvorstellbare, sogar der Wahnsinn lassen sich aushalten, wenn sie in die Form einer Geschichte gekleidet sind. Man glaubt und man glaubt nicht, hin- und hergerissen, läßt sich treiben, verharrt in empfänglicher Trägheit.
       ›Ich habe also diesen Mann gefunden‹ erzählt Ihnen einer, ›den ich über all die Jahre gesucht habe, unermüdlich, der mich gleichsam so verfolgt hat wie ich ihn. Allein weil mein Haß so groß war, hierin lag meine ganze Kraft, habe ich nicht aufgegeben, habe ihn finden können. Mein unüberwindlicher, ewiger Haß auf ihn, er hat mich ans Ziel geführt, scheinbar ganz zufällig, aber mir ist klar, daß es ein unerbittlicher Schicksalsplan ist, der sich nun erfüllt, als ich auf ihn treffe, den Mann, meinen Gegner, und ihm folge, Straße um Straße, und weiß, daß er mir jetzt nicht mehr entgehen kann. Schließlich steige ich hinter ihm die Stufen hinauf, und er bemerkt mich nicht oder will mich nicht bemerken, und als er die Wohnungstür öffnet, trete ich einfach hinter ihn und schlage ihn nieder, stoße ihn, während er fällt, in den Raum hinein. Und dann, während ich die Wohnungstür verschließe und mit dem höchsten Gefühl von Macht, einem nahezu göttlichen Gefühl von Macht, den am Boden Liegenden betrachte, ziehe ich mein Messer, um es wieder und wieder in seinen Leib zu stechen, so wie ich es mir jahrelang vorher ausgemalt habe . . .‹
       So eine Geschichte, hübsch erzählt, sagen wir von jemandem, der Ihr Bahnabteil gerade zehn Minuten zuvor betreten hat, der sich in einem bereits fast leeren Lokal unaufgefordert an Ihren Tisch setzt, nicht mehr ganz nüchtern. Sie würden es ertragen, gut, nur vielleicht dann, wenn ein paar Worte ganz anders gewählt worden wären, etwas drastischer, weniger auf Form bedacht, dann hätten Sie ihn möglicherweise gleich ausgelacht oder als einen armseligen Menschen abgetan, dem es Spaß macht, psychologische Experimente durchzuführen, anderen einen Schrecken einzujagen. Aber so? Der größte Irrsinn ist so auszuhalten. Es ist diese Sachlichkeit, die in der Tatsache des Berichtes liegt. Sachlich, meine Herrschaften, bin ich doch bei diesem letzten kleinen Exkurs geblieben. Und niemand würde so etwas doch erzählen, ich meine den Mord, wenn es wirklich geschehen wäre, oder? Es ist also lediglich unterhaltsam, es gibt keinen Grund, dieser Erzählung allzuviel Glauben zu schenken. Sie ist ganz und gar harmlos. Ja, an seinem Wahnsinn könnte man

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