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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Initialen T. L. gepinselt hatte. An der offenen Seite der Kisten waren wuchtige Beschläge angebracht, die durch eine Eisenstange verbunden und von zwei Vorhängeschlössern gesichert waren. Den beiden anderen Reisenden war der Anblick dieser gewaltigen Gepäckstücke vorenthalten worden, und kein Mitglied der Mannschaft hätte je gewagt, den Knaben nach ihnen zu fragen. Als der Kapitän, um eine gute Nacht zu wünschen oder nach dem Rechten zu sehen, am Abend des zweiten Tages einen Blick in die Kabine werfen konnte, wurde ihm fast schlecht vor Angst, als er sah, daß der Junge, der ihm schläfrig die Tür öffnete, sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Truhen wieder zu verschließen. Der Knabe schmunzelte unversehens, denn er verstand die Miene des Kapitäns zu deuten, und er wußte, was der Portugiese zu sehen erwartet hatte. Wie oft hatte er diesen zugleich gierigen und ohnmächtigen Blick an Menschen wahrgenommen, dieses lüsterne und gleichzeitig leidende Blitzen in den Augen derer, die ähnliche Truhen geöffnet sahen. Er lächelte deshalb, weil das, was der Kapitän erblickte, nichts anderes als Bücher waren, Werke von Puschkin und Gogol, Vergil und Horaz, von Molière, von Sterne und ebenso seine alte Lieblingslektüre, eine Fibel im Quartformat aus einem kleinen Verlag seiner Heimatstadt, der Verfasser Aaron Lukin hatte sie ihm geschenkt, und der Knabe hielt sie deswegen in Ehren, weil dieses schmale Bändchen sein erstes eigenes Buch gewesen war:
       Für Mußestunden: Rechenscherze, Zahlenkunststücke, Auszählaufgaben und dergleichen – für jung und alt.
       »Ich denke,« sagte der Knabe dem Kapitän, der um Fassung rang und in dessen Augen noch immer Angst geschrieben stand, »daß ich heute nacht ruhiger schlafen werde als Sie.«
      
       Die Truhen, die T. L. in den Augen Bianchis zum Verbrecher machten, sie standen jetzt offen und ohne Inhalt, als wären sie erst vor kurzem geleert worden, in einem Raum ein paar Meter unterhalb der Gerberei im weitläufigen Keller der Familie, neben unbrauchbaren Lederresten und ausrangierten Möbeln. Die letzten Bücher hatte der Baumeister bei seiner Rückkehr verschenkt, geblieben war nur seine wichtigste Spur, die emaillierte Dose. Die Bedeutung dieser Spur, ihre Genauigkeit, zeigte schon Mahgourians Beschreibung der Überfahrt nach Genua, die er als Einführung in die Aufzeichnungen T. L.s gewählt hatte, um der Spannung willen, oder weil uns Bianchis Beschimpfungen des Baumeisters noch im Ohr klangen. Vielleicht sogar, weil der bärtige Artist, von dem noch die Rede sein wird, ein weiteres jener Schicksale war, das ungleich früher, in der Vorzeit von Mahgourians uns bekannter Biographie, seinen Lebensweg gekreuzt hatte.
       Der alte Hotelier, dessen Haut durchscheinend bleich geworden war, dessen Hände und Arme auf einmal so zerbrechlich wirkten wie feines Porzellan, seine Augen leuchteten jetzt auf unwirkliche Weise, während er erzählte, als wäre zuletzt ein Beleg dafür zu geben, daß es das Alter sei, dem alle Weisheit allein zuteil werden würde, um welchen Preis auch immer.
       »Ich versuche, den Ton und das Wesen eines Menschen zu treffen, der jetzt wohl in meinen Jahren ist«, erklärte Mahgourian, »aber ich glaube, Sie werden ihn nicht altmodisch nennen. Eher zeitlos. Seine Geschichte, die der Umstände halber zugleich Ihre und meine ist, könnte so gut damals spielen wie heute. Sie hat genauer gesagt noch gar nicht aufgehört, sie ereignet sich gerade, sie entwickelt sich noch immer fort. Denn wir folgen weiterhin seiner Spur.«
      
      
       Der Knabe hielt sich nicht an die gutgemeinten Ratschläge des Kapitäns. Es war wohl der falsche Weg, ein neues Leben zu beginnen, indem man schon den ersten Fährnissen auszuweichen versuchte. Eine neue Welt wollte mit Neugier betreten werden, und möglicherweise mußte man sich sogar mit Menschen, die man vorher gemieden hatte, gemein machen, um sich am Ende endgültig von ihnen zu befreien. Die Erfahrungen seines Lebens, das wurde ihm mit einem Male klar, als er sich um die Mittagszeit des nächsten Tages auf Deck im Kreis drehte und erkannte, daß in allen vier Himmelsrichtungen nichts anderes zu sehen war als der endlos scheinende Spiegel des Meeres und daß dies trotzdem nur für den Augenblick seine Welt, die ganze Welt ausmachte, diese Erfahrungen waren einseitig gewesen. Der Zufall hatte sie für ihn bestimmt. Sie waren ihm zugestoßen. Mal hatte er sich treiben lassen wie ein

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