Trojaspiel
Blatt im Wind, mal hatte er mit aller Macht das Falsche getan, aber er wußte, daß, was auch immer sein Schicksal war, nicht etwa in einem Buch geschrieben stand, dessen Text nicht mehr zu ändern war, sondern daß er es in jeder Sekunde seines Lebens selbst neu zu schreiben beginnen könnte.
»Damit«, stotterte er, erschrocken über den Klang seiner Stimme, in den Wind, »will ich jetzt beginnen. Ich werde nur noch das tun, was mir richtig erscheint und mich durch niemanden mehr davon abhalten lassen . . .«
»Es gibt kein Gefängnis für mich«, dachte er laut weiter, »ich bin nicht eingesperrt. Es ist nur der Versuch gewesen, das Leben zu begreifen. Auf meine Weise. Ich werde es weiter versuchen. Denn ich möchte ein Mensch werden.«
Was es heißt, an seine Grenzen zu stoßen, die letzten Sprossen der Leiter zu erklimmen, den Kreis auszuschreiten, hatte Asruni, der Artist mit der fliehenden Stirn und den buschigen Augenbrauen, auf drastischere Weise erfahren als der selbstgefällige Grieche. Er war aus dem Hochland Ostanatoliens über das pontische Gebirge nach Batumi am Schwarzen Meer geflohen und von dort auf einem Schoner nach Odessa gesegelt. Ein naiver Mensch, dessen Vorstellung von Lebensglück das Urbild seiner durch die türkische Verfolgung unterbrochenen Kindheit war: das Zusammensein mit Tieren unter Gottes freiem Himmel. Er war ein Bauernjunge, dem plumpen Aussehen nach, und seiner Großmutter, einer nicht schönen, aber weithin verehrten Frau, wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Nachbarn kamen zu ihr, wenn das Vieh krank war, sie konnte Rotlauf bei Schweinen heilen, trockene Kühe wieder Milch geben lassen, sie heilte Hammel, die wochenlang nur noch im Kreis gelaufen waren, und machte bißwütige Hunde lammfromm. Einmal hatte sie einem gefangenen Star, dem nach einem schweren Gewitter das Singen vergangen war, die Stimme zurückgegeben, indem sie einfach seine Käfigtür geöffnet hatte. Der Vogel hatte die Gelegenheit zur Flucht nicht genutzt, sondern, nachdem er den Gefängnisausgang kurz inspiziert hatte, seinen Gesang beruhigt wieder aufgenommen.
Sie half auch den Menschen, sie besprach Gürtelrosen und Schuppenflechte, vertrieb die schmachtende Kuhäugigkeit von Hysterikern und linderte Gicht und Rheumabeschwerden.
»Das war keine Hexerei«, versicherte Asruni.
»Sie legte ihre Hand auf das Tier oder sah es nur an, und sie berührte die Hände der Menschen. Dann sagte sie die Sätze, die vor ihr schon ihre Mutter, ihre Großmutter und Urgroßmutter und deren Mutter und Großmutter bis zurück zur Generation derer, über die ich nichts mehr zu sagen weiß, gemurmelt hatten. Bevor sie starb, wollte sie mir ihr Wissen anvertrauen. Ich sollte mir alles aufschreiben und dann merken und bewahren. Sie wußte, wie gut ich mit Tieren umgehen konnte. Ich konnte jedes Tier zähmen. Es war meine Geduld und vielleicht mein geringer Verstand. Die Tiere begriffen, daß ich ihre Gesellschaft derjenigen von Menschen vorzog. Ich besitze keine Bildung und bin nicht unterhaltsam. Selbst unter meinesgleichen gibt man mir schnell zu verstehen, daß mein Verstand unzureichend ist. Meine Großmutter aber begriff, daß ich mich zu sehr fürchtete. Sie lächelte, als sie starb, und nahm ihre Weisheiten mit ins Grab. Ich schämte mich sehr, denn durch mich war diese Tradition unserer Familie verlorengegangen. Sie hat nicht ihre Tochter, meine Mutter gefragt, sie hat mich ins Vertrauen gezogen. Aber ich habe ihr nicht einmal gerade in die Augen sehen können. Meine Kunst mit den Tieren habe ich danach noch verbessert. Ich wollte es wiedergutmachen. Ich brachte ihnen sogar Kunststücke bei. So leicht, als wären sie meine Freunde, die ich nur zu bitten brauchte, mir einen Gefallen zu tun. Als ich in Odessa ankam, war ich ohne Geld und arbeitete als Tagelöhner im Hafen. Aber ich verdiente nur achtzig Kopeken am Tag, und das reichte nicht für eine eigene Wohnung, nicht einmal für ein Zimmer, also schlief ich im Asyl. Dort traf ich auf einen kleinen Jungen, der geflohen war, wie ich. Er und sein Bruder hatten einen noch längeren Weg hinter sich, sie haben fast den ganzen Weg über Land gemacht, über den Kaukasus, haben mit der Fähre die Straße von Kertsch überquert und sind dann über die Krim nach Odessa gekommen. Kurz bevor sie die Stadt erreichten, verloren sie ihren Vater, der sie begleitet hatte. Er war eines Morgens, nachdem ihm die Söhne das Frühstück bereitet
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