Trojaspiel
ihm sieht man es an. Niemand würde ihm glauben.«
Asruni betrachtete den Knaben jetzt verwirrt, er hatte wohl doch nicht damit gerechnet, etwas von ihm zu hören. Der offene Blick des Mannes, der auf einmal ganz klar zu werden schien, traf den Jungen mehr als die glasige Verzweiflung in Asrunis Gesicht, die ihn noch unmittelbar zuvor so teilnahmslos hatte erscheinen lassen. Fast war es, als wäre er auf einen Schlag nüchtern geworden.
»Ich bin kein Verbrecher, aber schuld bin ich doch an allem, denn ich habe unklug gehandelt. Wäre ich ein Verbrecher, dann würde ich jetzt nur darüber unglücklich sein, daß ich meine Chascha verloren habe, oder ich hätte auch sie erschlagen, weil sie mich nur benutzt hat, und dann, dann würde ich jetzt so aufgeblasen daherreden wie Rodomanti, der es nur nicht fassen kann, daß er bislang ein so unverschämtes Glück gehabt hat. Es spielt aber keine Rolle, ob ich ein Verbrecher bin, das interessiert nur diejenigen, die Menschen vor dem Gesetz beurteilen. Aber Dummheit ist eine Sünde, aus Dummheit und aus Mißverständnissen entsteht mehr Übel auf der Welt als aus Boshaftigkeit.«
Der Knabe schmunzelte über diesen fast religiösen Eifer, mit dem der Artist sich selbst zu beschuldigen versuchte.
»An Ihrer Lust daran, sich für einen Sünder zu halten, erkenne ich, daß Sie auf dem besten Weg sind, ein Heiliger zu werden. Vermutlich war das der Grund, weshalb Ihre Großmutter sie ausgewählt hat. Es ist zuviel Last für einen Menschen, allein an allem schuld zu sein. Weisen Sie ein bißchen von der Verantwortung auch anderen zu. Sonst machen Sie es Halunken wie Rodomanti zu leicht. Das sind diejenigen, die sich nie selbst die Schuld geben. Sie handeln immer aus einer gerechten Enttäuschung über eine ungerechte Welt. Das ist dumm. Und wenn Sie, entschuldigen Sie, etwas Dummes haben, dann, daß Ihre Sicht der Dinge die tatsächlichen Verhältnisse mit der gleichen Inbrunst leugnet.«
Der Knabe begriff, noch während er sprach, daß der Versuch, den Artisten aufzuheitern, nicht gelungen war, er glaubte sogar, etwas wie Verachtung in dessen Augen zu erkennen.
»Ich sagte ja, mir fehlt es an Einsicht«, brummte Asruni störrisch und setzte seine Wodkaflasche an.
»Wie wollen Sie also aus mir einen besseren Menschen machen«, fuhr er schließlich fort, »wenn schon die erste Voraussetzung dafür fehlt. Aber schuldig bin ich doch und werde es immer sein, schuldig, schuldig, schuldig . . .«
Mahgourians Augen wanderten, während er jetzt schwieg, über unsere Gesichter, als hätte der Baumeister ihm seine Stimme geliehen, um uns so zu verwirren, wie er es als Knabe mit dem Hundedompteur getan hatte. Nur ich spannte den Mundwinkel streitbar, ich wußte, daß der Alte lediglich die Wirkung seines Berichtes verstärken wollte, indem er seine Zuhörer einzubeziehen versuchte – dadurch, daß er von Schuld sprach. Die Sachlichkeit, mit der auch der Wahnsinn auszuhalten war, stand der Selbsterkenntnis im Wege. Ein gleichmütiges Publikum, das die Lebensfragen anderer Menschen nur aus Unterhaltungsgründen in Betracht zog, verachtete der alte Mann. Und so bin ich mir nicht immer sicher, wer von beiden, nämlich Mahgourian oder der Baumeister, es war, der gerade zu uns sprach. Das Geschichtenerzählen liegt den Armeniern im Blut, und der Meister der Rekonstruktion, der den faustdicken Stapel an Dokumenten neben sich nur gelegentlich zur Hilfe nahm und den ich hier treulich wiederzugeben versuche, war ein leidenschaftlicher und deswegen verdächtiger Erzähler.
»Sie werden es nicht schaffen«, sagte der Knabe leise, aber eindringlich, während er die Felsenküste gegenüber beharrlich beobachtete, als könnte dort, kurz vor der Ausfahrt in die Ägäis, ein Schauspiel besonderer Art seine Aufmerksamkeit fesseln, jetzt wo die Hälfte der Strecke zurückgelegt war.
»Nein, Sie werden es nicht schaffen. Nicht in dieser Verfassung«, murmelte der Junge weiter, weil ihm so war, als müßte er, jetzt da sie sich dem Mythenmeer näherten, auch das Schicksal des Mannes, der betrunken zu seinen Füßen lag, herausfordern.
»Sie dürfen niemandem verraten, wer Sie sind und was Sie getan haben. Büßen Sie meinetwegen, indem Sie schweigen oder Ihre Legende erfinden, lassen Sie sich nicht in die Karten schauen, vertrauen Sie eher Ihrer Nase als anderen Menschen. Wenn Sie reden müssen, dann, meinetwegen, lügen
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