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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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zuversichtlich, als sei ihr mit einem Male klargeworden, wie gut sie alles eingerichtet hatte und daß noch nichts verloren war. Birnbaum richtete sich auf.
       »Na schön, daß Sie sich auf der Flucht vor einem Antisemiten in einem jüdischen Viertel verstecken, ist wohl in Ihrem Fall eine gute Idee. Aber dies hier ist die Moldavanka, mein Kind, ein Viertel, in dem tugendhafte Menschen auf Zehenspitzen gehen. Außerdem gibt es regelmäßige Polizeirazzien. Jeder wird kontrolliert und viele ohne Grund verhaftet. Sie könnten immerhin auffallen.«
       Der Rabbi kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg. Aber was wollte er denn eigentlich? Es war recht, vor einem Mann zu fliehen, der zuschlug, es war recht, das Kind zu schützen, und es war klug gewesen, in dieses Haus zu kommen. Nur daß er selbst auch hier wohnte, wollte ihm noch immer nicht behagen. Lisa hatte seinen Lebensweg gekreuzt, und nun, das spürte er, würde er etwas ändern müssen. Er durfte nicht derjenige sein, der nur zusah oder sich entzog. Denn er war gerufen worden.
       »Rabäh!« ertönte es ungeduldig aus der Wiege.
       »Ich weiß, Herr Birnbaum«, sagte das Mädchen und zwinkerte, »erst im Tod ist man ganz sicher. Wovor sollte ich mich also fürchten?«
       Birnbaum hielt dies für eine makabere Aussage aus dem Munde eines jungen Mädchens. Er nickte jedoch zustimmend und sah besorgt hinüber zu der sanft schaukelnden Wiege, als würde er fürchten, daß der schwermütige Geist Lisas schon Hand an sie gelegt hätte.
      
      
       Der Junge wuchs heran. Aus dem »Rabäh!«, das den Rabbi noch oft zusammenzucken ließ, weil er sich persönlich angesprochen fühlte, wurden Laute, die sich immer besser verstehen ließen, auch wenn keiner den Worten ›Fankoni‹ oder ›Robina‹ glich.
       Das Mädchen blieb im Geschäft der Madame Joubert und behielt ihre Wohnung, deren Einrichtung nach und nach um diverse Holzspielzeuge, einen Teddybären und eine Anzahl von Hut- und Schuhschachteln ergänzt wurde, die der Knabe, sobald er gelernt hatte, daß Hände auch zu anderen Dingen gut waren, als Rasseln zu schütteln oder an Bärten zu ziehen, in unterschiedlicher Reihenfolge übereinanderstapelte. Bald wurden diese hausähnlichen Gebilde auch bewohnt von Kastanienmännchen, die auf Streichholzbeinchen an Pillendosentischchen lehnten oder an Garnleinen ihre Briefmarkenhemdchen aufhängten. An besonders ruhigen Tagen begleitete der Knabe das häusliche Leben in den Schuhkartons mit knatternden Gewehrsalven, die er auf seiner neuen Blechtrommel abfeuerte. Da es schreckhafte Diebe im Hause gab, wurde diese Beschäftigung jedoch bald eingestellt.
       Der Knabe wurde versorgt von Deliah Blühstein, umhegt von ihren drei ledigen Schwestern (die es sich viel schwerer vorgestellt hatten, ein Kind zu bekommen), beschützt und ermahnt von Lukin, Ljutov und Jankel Salomoniak, erzogen jedoch allein von seiner Mutter und Rabbi Birnbaum, der den Knaben gerne den ganzen Tag betreut und ihm vielleicht sogar die Brust gegeben hätte, aber letzteres war schlicht nicht möglich und das erstere ein Zeitproblem, denn Birnbaum, dessen Selbstvertrauen fast wieder das Niveau vergangener Jahre erreichte, hatte, vielfach empfohlen, endlich begonnen, in der Talmudschule und im Rabbinerseminar zu unterrichten, seine Kapazitäten waren begrenzt.
       In einer Nachbarschaft, in der es für ihn gleich mehrere Aushilfsmütter und eine ganze Anzahl von Ersatzvätern gab, geriet der Junge in die Verlegenheit, seine Konzentration und seine kindlichen Zärtlichkeiten auf gerechte Weise zu verteilen. Zumal jeder, der mit diesem kleinen Exoten, dessen Haare nicht blonder und dessen Augen nicht hätten blauer sein können, zu tun hatte, sein Bestes gab, um den Knaben zu beeindrucken.
       Hätte der Junge (der übrigens Theo hieß, wie die Mutter bestimmt hatte, und der aus reiner Vergeßlichkeit nach keinem christlichen Glauben jemals getauft worden war und schon deswegen nicht sündigen konnte) selbst benennen sollen, was ihm, wenigstens in den ersten Jahren, an seinen Wohltätern die meiste Freude bereitet hatte, dann wären dies folgende Dinge gewesen:
       1. Seiner Mutter in die Augen sehen. Nur in ihnen, so gefärbt und katzenartig geschnitten wie seine eigenen, erkannte er sich selbst.
       2. Den Kopf zwischen die mächtigen Brüste von Deliah Blühstein legen und einschlafen.
       3. Mit der Hand durch den Wald fahren, der an Rabbi Birnbaums Kinn

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