Trojaspiel
befestigt und so groß war, daß man Kastanienmännchen in ihm verstecken konnte.
4. Ein Taschentuch so lange unter die Augen von Jankel Salomoniak drücken, bis sie nicht mehr feucht waren.
Erstaunlicherweise gelang es also dem Knaben nicht, schon in den ersten Lebensjahren zu einem Schwerverbrecher zu reifen.
Im Gegenteil: Zipperstein, jener Dieb und Räuber, der seine Delikte gemäß einer gerade moderner werdenden Theorie ›Enteignungen‹ nannte, führte gelegentlich Kunststücke aus seinem Berufsleben vor und fand dabei keinen schärferen Richter als Theo.
Er schob behende drei Nußschalen durcheinander und schließlich in eine gerade Reihe.
»Na, mein Vögelchen«, fragte er Theo mit süßlichem Lächeln, »wo befindet sich wohl die Perle?«
»Zwischen deinen Fingern«, antwortete der Junge dem verdutzten Dieb und bat ihn anschließend um die drei leeren Nußhälften, weil die Kastanienmännchen in der Kartonsiedlung noch immer nicht genug Stühle hatten.
Was sollte aus so einem Jungen einmal werden? Talente waren vorhanden, aber dem Erwerbsleben nicht ohne weiteres zuzuordnen: Theo betrachtete nur einen Moment lang den runden Sonntagskuchen in der Auslage einer Konditorei und konnte die Anzahl der Kirschen angeben, mit denen er bedeckt war. Er gelang ihm mit einem kurzen Blick aus dem Fenster zu bestimmen, wie viele Menschen sich gerade auf der Straße befanden, und er war in der Lage, sie, soweit seine Sprache reichte, zu beschreiben. Langweilte er sich allein in der Kammer, legte er sich unter das Bett seiner Mutter zwischen Holzscheite und Kohlen, drückte seinen Kopf auf den Boden und lauschte. Danach malte er dann einmal mit einem Kohlestück eine Zeichnung in das Notizbuch des Rabbis.
»Ein Teller Maccaroni«, stellte Birnbaum gelassen fest.
»Nein«, erwiderte der Knabe, »das ist der Weg, den die Maus geht, wenn wir sie nicht sehen.«
Der Lebensmut des Rabbiners war mittlerweile wieder groß genug für solche Wunder. Birnbaum fand derartige Äußerungen zwar ungewöhnlich, aber nicht alarmierend. Zum ersten Mal gestutzt hatte er schon vorher: Eines Morgens betrachtete der Rabbi den Dreijährigen, der auf einem Stuhl stand und Ringe, die seine Mutter abgelegt hatte, mit der Nase über die Fensterbank schob.
»Du bist ein Luftmentsch, kleiner Theo, und du gehörst in diese Stadt«, sinnierte er halblaut.
»Ja, denn in Petersburg würde man dich in den Zoo stecken.«
Wie ein Schwamm saugte der kleine Theo auf, was man ihm beibrachte, was er sah und hörte.
Niemandem verriet er jedoch, wozu und mit welchem Ergebnis. So auffällig wie sein gutes Gedächtnis war die Angewohnheit, gerade die kleinsten, scheinbar unbedeutenden Dinge in Gesprächen hervorzuheben, als würde um sie sein ganzes Denken kreisen.
Seiner Mutter reichte allein, daß der Junge kein Schreihals war und eher durch Schüchternheit auffiel. Die Zurückhaltung Theos erschien ihr als natürlicher Adel, eine Qualität seines Gemütes, die stolz seine Herkunft überstrahlte.
Die zahllosen Informationen, die Theo erhalten hatte, seitdem er aus seinem Dachsbau unter dem Bett der Mutter hervorgezogen worden war, deuteten darauf hin, daß die Welt, die er unausgesetzt beobachtete, erschreckende Ausmaße besaß. Die Vielzahl der Gesichter, die ihm täglich begegneten, die Frauen und Männer, die ihm zulächelten, ihm Fragen stellten oder mit dem Zeigefinger seine Locken ordneten, sie waren freundlich zu ihm, aber sie forderten seine Aufmerksamkeit bis zur Erschöpfung. Jeder von ihnen sprach und roch anders, jeder lachte und schwieg anders, und jeder von ihnen vertrat einen Winkel der Welt, deren Mittelpunkt die Stummstraße Nummer 9 sein mußte. Birnbaum, den er für den guten Geist seines verschollenen Vaters hielt, redete unausgesetzt und stellte viele Fragen, er schnarchte entsetzlich laut und konnte die quälendsten Gefühle heraufbeschwören, wenn er nur seufzte oder seinen Kopf schüttelte.
Seine Mutter, die er erst am Abend sah und in deren Gesellschaft er nicht gezwungen war, nachzudenken, seine Mutter, die den einzigen zweifelsfreien Grund dafür bot, daß jenes Durcheinander von Informationen sinnvoll, sogar selbstverständlich sein mußte, allein indem sie in seine Augen sah, machte sich rar. Es schien, als ob jede andere Frau im Viertel mehr Zeit für ihn hätte als sie.
Er betrachtete
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