Trojaspiel
Salomoniak), hatte für Dritte meist gar keine Bedeutung. Noch hatte Theo nichts über Lisa oder den Zweck seiner Entführung erfahren, das aktuelle politische Panorama der Stadt interessierte ihn herzlich wenig, und von den Verdächtigungen, denen Juden ausgesetzt waren, mußte ihm niemand erzählen. Die Vorfälle des Junis hatte der Knabe in den Zeitungen nachlesen können, während er aus Sicherheitsgründen vorübergehend auf der Fensterbank festgesetzt worden war. Wie es fürsorgliche Eltern in den Zeiten der Gefahr tun, hatten Lisa und Birnbaum die Idylle der Häuslichkeit beschworen. ›In manchen Zeiten ist es besser, nur aus Büchern zu lernen, Jingele. Es schont die Vorstellung, oder läßt sie als Ganzes überleben. Was dort auf der Straße geschieht, geht über deine Begriffe.‹ Wie hätte ein Fünfjähriger widersprechen können? Birnbaum meinte die zweitausend Toten des Juni-Massakers, die Feuer und Plünderungen nicht nur am Hafen, die Stimmung der Revolte, für die seinesgleichen immer ein empfindliches Sensorium besessen hatte. Die aus dem Gleichgewicht gebrachte Welt fiel am liebsten den Juden auf den Kopf.
»Du wirst einsehen, daß unsere künftige Zusammenarbeit unausweichlich ist und von Vorteil für beide Seiten«, resümierte der Verbrecher am Tisch. Er wickelte, nur zum Spaß, seine Faust in einen Leibriemen und schlug, die Brauen gefährlich gegeneinander schiebend, mit ihr gegen die Wand. Theo hatte sich das Zucken verkniffen, nur geblinzelt, weil er die Vorbereitung der Drohgebärde aufmerksam verfolgt hatte und sich ihr gewachsen fühlte. Ein weiterer Schlag brachte das dürre Holztischchen zum Tanzen und drang in die Tiefe der raspelnden Träume am anderen Ende des Raumes. Dort lockte er ein Seufzen, dann ein erschrockenes Glucksen hervor, eine zappelnde Fußsohle und drei zu Haken gekrümmte Finger. Der Entführer lehnte sich unterdessen wieder nachdenklich auf seinem Stuhl und ins Dunkel zurück. Flacher Lichtschein drang deswegen bis zu der Bettstatt aus Kisten, strich über eine Decke aus der Theo schon bekannten Jute, bis ein rundum behaarter unsymmetrischer Schädel sich erhob, der im Regelfall auf Hals und Rumpf von Herrn Kotusov anzutreffen war. Und dieser Herr war es auch, der sich mit dem mürrischen, halb verlegenen Blick des Trinkers während seiner vorübergehenden Nüchternheit erhob. Die Reihe der Bruchkanten, welche sein auf die linke Gesichtshälfte verschobenes Nasenbein zu einem Blickfang formten, zusammen mit der unter einem Trommelfeuer von Faustschlägen gewachsenen Landschaft seiner Visage, modelliert während der kaum zählbaren Male, die er im Gefängnis, in Kneipen oder anläßlich der von Theos Entführer beschriebenen Straßenschlachten für Ehre und Vaterland oder mehr beleidigende Standpunkte eingestanden war, gaben dem Mann der Hebamme tatsächlich etwas Tierhaftes und zugleich Klägliches.
»Bedank dich bei dem da, Söhnchen, daß ich dich gefunden habe. Ich weiß nicht, wofür er nüchtern gut ist. Aber betrunken nimmt er es mit der ganzen Welt auf – nicht wahr, Mitja? Gib ihm Schnaps, und er wird seine Mutter an den Teufel verraten.«
Herr Kotusov, in dessen vom Alpdruck zögerlich genesenden Bewußtsein diese Schmeicheleien nicht vordringen konnten, vertrieb den Anflug von Scham auf dem Gelände seines Gesichtes, indem er eine Hand gierig zwischen die Kisten schob, wo er eine Wodkaflasche erfingerte, die er in einem liebgewordenen Ritual mit den Zähnen entkorkte. Daß der Knabe, der Schüler des Rabbis, oder sein Opfer, wer wußte das schon, dieses herzzerrreißend unschuldige Engelchen, jetzt tatsächlich dort saß, nichts von der Vorgeschichte konnte also nur geträumt sein, es trieb ihm ein flaues Gefühl in den Magen. Ein Schwein, ein Tier oder ein Vieh nannte man ihn gewöhnlich. Als seine arme Mutter aber, die den Teufel erst in der Gestalt des eigenen Sohnes kennengelernt zu haben glaubte, ihn zum ersten Male streng und zugleich traurig ins Auge gefaßt hatte, um ihm zu sagen: ›Mitja, ich glaube, du bist ein schlechter Mensch . . .‹, da hatte es ihn in der Brust geschmerzt. Dem Ort, wo, solange man lebte, die Seele saß, und es hatte sich ein Gefühl eingestellt wie jetzt. Der Magen, mit dem er so gut wie nie Probleme hatte, kommentierte ein tiefer sitzendes Unwohlsein, das sich durch keine Form und Dosis von Alkohol ganz ausmerzen ließ, solange man noch bei Bewußtsein war. Die Gegenrhetorik, die Herr Kotusov entworfen
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