Trojaspiel
noch androhen würde, sollte er sterben. Der Knabe wünschte es sich so fest wie noch nie etwas in seinem Leben. Aber wie sollte es geschehen? Ein Mord, soviel glaubte Theo zu wissen, mußte sich dann ereignen, wenn es keinen Ausweg mehr gab. So wie jetzt.
Das Tier hatte sich unterdessen die Stimme eines Menschen angeeignet, mit der es wie im Schlaf sprach.
»Sonja, ach Sonjachen«, seufzte es, wälzte sich unter beifälligem Ächzen seiner Schlafstätte, bis erneut ein Pfeifen die Rede ersetzte, eine Tonleiter hinunterfiel und als rasselnder Baß, der sich für Theos jetzt mutigere Ohren anhörte wie betrunkenes Schnarchen, an Bett und Stubenwänden sägte.
»Ich würde ihn am liebsten zertreten«, flüsterte der Entführer am Tisch abwesend. Er schüttelte den Kopf, aber seine Aufmerksamkeit galt noch immer dem Knaben.
»Aber die Nacht ist noch lang . . .«, grübelte der Fremde laut.
»Nein, nein, nein –«, sinnierte er weiter und wandte sich fast entschuldigend an Theo.
»Ich brauche ihn doch als Zeugen für das, was ich getan – oder besser nicht getan habe!«
Niemand widersprach. Zufrieden mit der gemachten Erkenntnis, sah der Verbrecher sein Opfer selbstgefällig an.
»Du schreist nicht, Söhnchen, jammerst nicht einmal. Die Tränchen laß ich nicht gelten, denn die Luft ist schlecht. Man muß sich gewöhnen daran. Es war keine Zeit für Fenster, nach dem Brand im Juni. Die Asche liegt noch immer in der Luft, und der Boden ist rot von Blut, man möchte das von Herzen nicht sehen. Und es ist ja auch kein Ende zu erwarten. Mord und Brandstiftung gehen weiter, wirst es erleben, Söhnchen. Diesmal nicht im Hafen, und es werden nicht Kosaken rebellische Arbeiter zusammenschießen. Auch das ist sicher. An all dem war ja nicht die Potemkin schuld. Ein paar Matrosen wiegeln Streikende nicht zur Gewalt auf. Die Juden waren es. Flugblätter und Polizeispitzel behaupten das jedenfalls, und sie haben Erfolg damit. Da habe ich dich also gerettet, wenn du es genau wissen willst, Söhnchen. Denn glaube mir, da draußen ist es gefährlich geworden. Die Männer in den Baracken neben uns haben blutige Träume. Viele ihrer Freunde haben den Sommer nicht überlebt. Dieser Zorn in den Köpfen der Arbeiter und Tagelöhner, der Ladenschwengel aus der Oberstadt und der Bauernlümmel aus dem Peresyp, er ist wie ein Schmerz, der den Seelenfrieden des Zaren bedroht. Man spürt Schmerz jetzt allenthalben in Mütterchen Rußland. Seit dem Petersburger Blutsonntag haben wir keinen Vater mehr. Nur einen Despoten. Rußland, das ist jetzt das Volk ganz allein. Einstweilen sind jedoch die Juden schuld, wenn Streikende auf die Polizei und Loyalisten auf Revolutionäre treffen. Das ist die Losung. Dieser Zorn, verstehst du, Söhnchen, der muß ein Ziel haben. Und das Ziel wird Moldavanka heißen. Sie rüsten sich mit Gewehren und Granaten dort, und ihre klügsten Köpfe holen Arbeiter an die Universität, wo das Polizeirecht nicht mehr gilt, und schwören sie auf die rote Fahne ein. Aber zunächst, das versprech ich dir, Söhnchen, wird man die Stummstraße anzünden, der Winterpalast kann warten.«
Theo schwieg – wenn das möglich sein sollte – noch nachdrücklicher als zuvor. Mehr als der lächerliche Versuch des Fremden, sich als Lebensretter auszugeben, mehr als die Sorge, die es ihm bei seinem Opfer damit trotzdem zu entfachen gelang, brachte den Jungen, hingehockt auf die kratzenden Überreste eines Jutesackes, ein Abbild der ausgemergelten, handaufhaltenden Straßenrandgewächse der Moldavanka, das Söhnchen auf. Söhnchen . Es klang in den Ohren des Jungen so, als wäre die Tatsache, ohne Erzeuger aufgewachsen zu sein, eine Einladung für jedermann, sich als Vater auszugeben. Experimente mit biologisch und rechtlich unverbindlicher Urheberschaft, um im Ergebnis ein Kind durch ungefragte Anteilnahme zu demütigen. Es gab schon so viele Ersatzväter für Theo, aus ernster oder bloß launenhafter Berufung, von denjenigen, die (wie Ljutov) Theo sagten und Lisa meinten, ganz zu schweigen. Seinen leibhaftigen Tate, wenn er sich denn niemals zeigen würde, wollte Theo nach eigener Wahl ersetzen und sich dabei weder von seiner Mutter noch von der Religion, noch von Beruf, Aussehen oder Geld in die Entscheidung reden lassen. So etwas war ohnehin zwecklos. Wer sollte ihm denn raten, was ihm an Menschen gefiel (etwa des Rabbiners Bart oder die immer feucht glänzenden Augen von Jankel
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