Trojaspiel
seiner neugewonnen Freiheit, desto mehr fühlte er sich schuldig.
Vielleicht verstand der Knabe etwas von Herrn Kotusovs Neigung zum Aberglauben, hatte womöglich selbst schon einmal Erwägungen in dieser Richtung angestellt – denn die Geschichte seiner Hebamme war ihm nicht unbekannt –, er hielt es jedenfalls für besser, auch gegen ihn, den er im übrigen nicht persönlich kannte, Stillschweigen zu wahren.
Wie zuvor den Murmeleien seines Entführers konnte Theo jetzt einem Kotusovschen Selbstgespräch beiwohnen. Es war nicht genau zu enträtseln, wovon er sprach, aber es ging um Geld und Erpressung, ein unzusammenhängendes Bekenntnis, dann einen Plan, der zur Ausführung kommen sollte. Bevor Einzelheiten zu hören waren, geriet es zu einer Haßtirade gegen reiche Schmarotzer, insbesondere Juden, die sich mit Geld von ihren Sorgen freikaufen und das Proletariat in Ketten legen wollten. Theo hielt das am Ende wütende Gestammel für eine alkoholische Reflexion des ehemaligen Kettensträflings über sein Schicksal. Der biographische Bezug war nicht zu leugnen, Kotusov, so hatten alte Weggefährten des Schlägers auf dem allwissenden Alten Markt gemorst, war im Durcheinander einer allgemeinen Amnestie, mit deren Hilfe sich die Obrigkeit hatte beliebt machen wollen, vorzeitig aus der Zwangsarbeit entlassen worden, wie andere seiner überraschten Mithäftlinge auch. Ehemalige Sträflinge schlossen sich den aufstrebenden Banden der Stadt an, brachten berufsbedingt Handwerk und Erfahrung ein oder verschafften Streikenden und Revolutionären Zulauf. Die Gnade des Zaren wurde eben nicht immer erwartungsgemäß belohnt. Herr Kotusov aber war kein Rebell und mußte als tatsächlicher Krimineller erst reüssieren. Er hatte zeit seines Lebens keine andere Fahne als die des Alkoholikers vor sich hergetragen, und so ging ihm auch kurz nach der Erwähnung des in Ketten gezwungenen Proletariats die Puste aus, weitere Inspiration war erforderlich, und er fand sie, indem er sich erneut unter die Jute streckte und Konferenz mit seinen Nachtmahren hielt.
Schließlich machte der andere ein paar Schritte auf den Gefangenen zu, schob seine Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus und hockte sich plötzlich auf Augenhöhe mit Theo.
»Ich habe mir in den vergangenen Jahren nicht die Augen nach dir aus dem Kopf geweint, mein Junge. Aber ich bin einmal für deine Ehre und die deiner Mutter eingestanden. Es ist Zeit für dich, das einzusehen. Es ist Zeit, deinen Vater kennenzulernen.«
Nicht einmal das Auskneipen aller Alkoholvorräte, die in der Moldavanka von den Schankstuben, Restaurants und Weinlokalen, in Kellern und Medizinschränkchen, im Bett der blinden Großmutter, hinter Sofakissen und in Hundekörben aufbewahrt wurden, glaubte Theo, hätte einen Mann zu so wahnsinniger Rede verführen können. Von einem zum nächsten Satz hatte das Wort Vater allen vertrauten Klang verloren und einen ganz neuen Sinn gewonnen, einen dunklen und fragwürdigen, einen, der ihm bislang womöglich vorenthalten worden war. Über dessen Existenz ihn Lisa und Birnbaum, auch alle vollzählig gebliebenen Familien seines Gesichtskreises, mit billiger Harmonie prahlend, bewußt im unklaren gelassen hatten. Diese neue und hoffentlich flüchtige Bedeutung des Wortes Vater gefiel ihm nicht. Sie wirkte so lähmend wie das dumpfe Geplapper der Leidensgenossen von Kotusov, die etwas sagen, einen Gedanken aussprechen wollten, aber geeignete Worte in ihrem Rausch nicht fanden. Theo hielt der Einfachheit halber den Entführer mit seinem Kneipenatem für den gleichen Fall wie Kotusov, ein Opfer dieser am Ende als Krankheit erscheinenden Macht des Alkohols, sie verdrehte die Gedanken und den Sinn der Worte. Der Fremde ließ den Kopf auf die Seite schnappen und beobachtete Theo nicht ohne Genugtuung.
»Schau mich nur an, mein Junge, erkenne: Unsere Augen zeigen das gleiche Blau. Vielleicht hat mich Lisa deswegen ausgewählt.« Der Entführer machte eine bedeutungsvolle Pause, in der Theo, nun ganz und gar verlassen von einem Begriff des Wortes Vater, seine Gedanken schutzsuchend an Birnbaum klammerte, an Lisa, an den alten Schmolts, Erzeuger der vier Blühstein-Schwestern, und an einen großen, seiner Meinung nach gütig warmen Schatten, den er manchmal in seiner Nähe geglaubt, an seiner Seite wachend gespürt hatte, dessen Gegenwart er still hoffend vorausgesetzt hatte, so wie sicherlich auch Herr Kotusov, selbst in
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