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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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mußte.
       Der Herr im modischen, aber knittrigen, nicht ganz sauberen Anzug zu seiner Rechten wäre dem blonden Haar, der blauen Augenfarbe nach wohl der Vater. Der allerdings ungepflegte, wild und streitlustig um sich blickende Mann in derben Lumpen zur Linken konnte als der liebenswerte, in Folge seines Temperaments geächtete Onkel durchgehen, mit dem man sich nur nachts auf der Straße zeigen wollte.
       Was Theo selbst durch den Kopf ging, während ihn seine ärmliche Begleitung scheinbar ziellos, kreuz und quer durch die Stadt führte, war die Frage, warum die zahlreichen Zeugen ihm trotz ihrer gespannten Aufmerksamkeit nicht zu Hilfe kamen.
       Vielleicht wäre nur wieder Birnbaum geeignet gewesen, empörte, sogar handgreifliche Reaktionen zu provozieren, aber kein Rabbi und niemand, der einem ähnlich sah, war zugegen. Und so blieb dem Schäflein außer dieser Spekulation und dem lange eingeübten, nervliche Beruhigung stiftenden Zählen seiner Schritte, nicht viel zu tun übrig.
       Wassilev, der väterliche Verbrecher im Anzug, hing eigenen Gedanken nach. Er war zufrieden mit der Verkleidung des Jungen. Er hatte dessen von der Mutter sorgfältig gearbeiteten Knabenanzug versetzt, um ein paar Kavaliersschulden zu begleichen, und Theos Schafspelz bei einem Lumpensammler erstanden.
       In Herrn Kotusovs Gedankenwelt war unterdessen einige Male der ganz unsinnige Wunsch aufgeblitzt, den Knaben auf seine Arme zu heben und an der Brust zu wiegen. Beschwingt genug war er bereits dazu. Gern hätte er der trotz der späten Stunde so zahlreich am Weg versammelten Öffentlichkeit einen Eindruck vermittelt, den er zeit seines Lebens vor allem Sonja schuldig geblieben war. Manneskraft wollte er besitzen, einen Stammhalter gezeugt haben und stolz behüten, wie selbstverständlich ihn durch die unsichersten Straßen in ein gemütliches Heim transportieren, wo eine geduldige Mutter, zwei Gläser warme Milch und ein aus Liebe entstandenes Nachtmahl die Heimkehrer erwarten würde.
       Der Knabe aber hatte kein Interesse, sich auf den Arm nehmen zu lassen, sondern schritt stumm die Irrwege, die der Entführer vorgab, abmessend in ihrer Mitte. Auch Wassilev wäre gegen das Rührstück gewesen, nicht aus neidischem Vatergefühl, eher weil er den Jungen müde und mürbe machen und – wie mit Lederriemen und Faust in den Tagen zuvor – seinen Mannschaftsgeist für bevorstehende Unternehmungen stärken wollte. Von Erziehung verstand Kotusov nichts, er hatte keine Einwände erheben wollen, aber mit einer gewissen Anerkennung festgestellt, wie der Knabe nach dem Bekanntwerden mit den Methoden des Stiefvaters kaum noch anderes im Sinn hatte, als den Weg der lockeren Hand zu berechnen, um ihr ausweichen zu können. Bei dieser mathematischen Schreckhaftigkeit des Rückenkrümmens, Wegduckens, Kopfbeschirmens war der Trotz des Jungen tatsächlich gewichen. Kotusov fand seinerseits Vergnügen daran, das Ausmaß der Keilereien zu überschlagen, die in der Luft lagen. Es war der Tag, an dem der Zar seine zweite Proklamation zu verlesen gedachte, die, und das juckte sein abwartend in den Straßen herumlungerndes Volk auf angenehme Weise, eine weitere Preisgabe von Standpunkten kaiserlicher Willkür bedeuten sollte. Zwischen den Baracken und rußgeschwärzten Ruinen am Hafen hatten die Untertanen in Erwartung künftiger Freiheiten bereits grimmig gefeiert. Halbnackte hatten in seligen Zuständen um offene Feuer getanzt, Liebende im Wodka vereint Umarmungen ausgetauscht, während Kinder sich über glitzernde Scherben jagten, auf gefallene Zecher traten, die den Zuwachs an Bürgermacht schlafend erwarten wollten. Hunde schnappten und bellten zu Gesang und Ziehharmonikaspiel, die Lungenkranken und Siechen keuchten und bettelten, drehten den Schläfern die Taschen um. Und diejenigen, denen die Feierlichkeit dieser Szenen nicht ausreichte, schoben sich Knüppel in die Ärmel und Schlagringe in die Taschen und machten sich auf zu vornehmeren Kulissen, nach Bulvarni oder ins Alexanderviertel, wo die Fassaden immer noch prächtig waren, wo es Beleuchtung, Ordnung und nervöse Polizisten gab, wo die Straßen sich noch weigerten, dem Volk zu gehören.
       In diese Gegenden verschlug es auch das seltsame Trio.
       Theo hatte bald gemerkt, sein Stiefvater führte ihn ziellos von hier nach dort, um ihn planvoll zu verwirren. Im Chaos der außer Kontrolle geratenen Stadt würde ein kleiner Junge untergehen. Wassilev war der einzige

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