Trojaspiel
Mensch auf der Welt, so lautete die Lektion, der sein Leben garantieren konnte. Als sie an einer der Feuerstellen, um die es besonders bunt und sorglos zuging, vorbeikamen, hatte Wassilev, wie ein müßiger Spaziergänger die Hände in den Taschen, die Anarchisten selbst befragt: einen jungen Burschen mit Gesichtsverwerfungen wie Kotusov, mit frischen Schrammen an Gesicht und Armen, der sein Hemd offen trug, die Jacke von sich geschleudert hatte und lachend auf den Knien hockte, um einem älteren nur noch Gliederpuppe spielenden Mann die Fäuste durchs Gesicht zu pflügen. Es ging um eine politische Differenz. Der Alte, dessen Gesicht die Form verlor, hatte sich geweigert, die rote Fahne zu küssen, weil er unter Zar Nicolais Vater der Marine angehört und nicht zeitgemäße Soldatengefühle bewahrt hatte. Ein Frevel war das in den Augen des Jüngeren, ganze dreihundert Meter von der Mole entfernt, wo ein anderer kaiserlicher Seemann im Juni, nur wegen eines verdorbenen Koteletts, dem er den Appetit versagt hatte, erschossen worden war. Wassilev machte sich seiner erzieherischen Marschrichtung folgend einen Spaß daraus, den Burschen, den er ›seinen Freund Sascha‹ nannte, zu bitten, in sich zu gehen und die Schläge neu zu bemessen anhand der Vorstellung, der alte Seebär wäre nicht nur Loyalist, sondern auch noch Jude. Darauf spritzte das Blut bis an die Hosenbeine der drei Wanderer. Ein neues Element der Wassilevschen Erlebnispädagogik. Beim Wegsehen an der Schulter gepackt und herumgewirbelt, blickte Theo in das Gesicht seines Entführers.
»Du glaubst, dein Rebbe wird dich schützen?« fragte der höhnisch. »Du irrst. Er ist ein alter Mann, seine Knochen werden leicht zu brechen sein.«
Für Theo, der gerade sechs Jahre alt geworden war, während das russische Reich Tag für Tag um Jahre zu altern schien, für Theo, der sich tief in sein Inneres zurückgezogen hatte, um dort nach ähnlichen Verstecken zu suchen, wie er sie in der Kammer seiner Mutter gefunden hatte, gab es keinen Kommentar zu dieser erzieherischen Strategie seines Stiefvaters. Er weinte nicht, er schrie nicht, er kratzte, trat und schlug nicht, sah das Gesicht des am Boden Liegenden sich in roter Dunkelheit auflösen, ohne eine Wimper zu bewegen, und wiederholte die Ziffer 948 störrisch wie ein Buchhalter, der sie zu überprüfen hatte, weil sie die Zahl seiner Schritte angab, seit er die Baracke verlassen hatte. Er bildete penibel die Flanken der anderen Behausungen am Weg ab, maß Winkel und Entfernungen, sah hinauf zum schläfrigen Lichtkranz, der sich auf der Oberstadt ausruhte, und gewann eine Vorstellung davon, wie der Hafenbezirk, den er mit Birnbaum Gott sei Dank nie betreten hatte, in die Koordinaten seines Straßenrasters einzufügen wäre. Innerlich wiederholte Theo auch seine Drohung gegen Wassilev. Er verwahrte sie für den Tag, an dem er die Muße besitzen würde, ihren Sinn oder ihre Umsetzung weiter zu erwägen. Ein Urteil war noch nicht gesprochen, alle schlagenden Beweise, die den Richter in den letzten Tagen zwingend und endgültig zur Höchststrafe hatten verführen wollen, waren ohne Zorn und Eifer zurückgewiesen worden, weil es das rettende Zählen und eben doch noch einen Ausweg gab.
Kotusov wunderte sich über das teilnahmslose Gesicht des Jungen. Der Mann der Hebamme hatte Furcht schon in zahllosen Gesichtern erblicken dürfen, und er war überzeugt, der Junge habe schon den Verstand verloren. Unschuld war eben nur begrenzt haltbar. Er riet dem Scheinheiligen daher, den gemeinsamen Weg rasch und direkt fortzusetzen, ehe die unausweichliche Ohnmacht folgen würde.
Kotusov wurde unterdessen durch das künstlich verzögerte Marschtempo selbst angesteckt vom Geist der Veränderung, der sich in den Bildern der Unordnung ringsum mitteilte. Sogar auf den Prachtboulevards des Zentrums hatte man die Beschränkungen aufgehoben, die er selbst zutiefst verabscheute.
Kneipen und Restaurants hatten ihr Leben bis auf die Straße gespuckt, laut und herzlich diskutierte das Volk, in Gruppen oder beweglichen Rotten und Meuten. Ausrufezeichen wurden mit den Fäusten gesetzt, Fragezeichen nicht mehr geduldet.
Kragenträger huschten schüchtern durchs Gewühl, Geschäfte standen auch in später Nacht noch offen, ihre Eigentümer waren probeweise enteignet worden, man feierte Orgien zwischen Tomaten, Melonen und Trockenfisch. Polizei war kaum zu sehen, verkniff sich Wache haltend das Einschreiten.
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