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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Die Blühstein-Schwestern fanden alles himmlisch, was Männer auf zwei Beinen ihnen mit Hilfe der Sprache in Worte zu fassen vermochten. Ljutov verwendete das Adjektiv, um Lisa, aber auch ihre Nase, ihren Mund, ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Hände, ihre Haare, selbst ihre Füße zu preisen, wenn er sich mit ihr allein glaubte. Der Dieb Zipperstein sprach von einer himmlischen Partie, wenn er kostbare Uhren oder bauchige Brieftaschen aus fremden Hosentaschen gezaubert hatte, nutzte das Wort aber auch, wenn ihm sein Bier schmeckte oder der Brustumfang einer Frau über das normale, die Hand füllende Maß hinaus entwickelt war. Rabbi Birnbaum hatte einmal das gedünstete Huhn mit Pflaumen, von Deliah Blühstein anläßlich einer Geburtstagsfeier serviert, himmlisch genannt, allerdings später, um mehr Genauigkeit oder Ernst bemüht, hinzugefügt, er könne sich jedenfalls einen Gerechten vorstellen, der an Gottes Thron, in den siebenten Himmel gelangt, ähnliche Köstlichkeiten genießen würde. Allein Jankel Salomoniak schien das Wort nicht zu kennen oder gebrauchen zu wollen, vielleicht, weil er für Übertreibungen keinen Sinn hatte.
       Die Hölle aber als ewiger Strafkerker ist dem jüdischen Glauben nicht vertraut, und so konnte sich Theo nur an gelegentliche milde Hinweise erinnern: ein Markttag, ein Theaterbesuch, die Wartezeiten beim Barbier Kirschblum oder eine Visite der Tante Fanni aus Kalinovka sei die Hölle gewesen, weil der Klagende sich zu diesen Gelegenheiten in einem tauben, gelangweilten und verlorenen Zustand befunden habe. Im übrigen lebten Theos Nachbarn klar auf das Diesseits bezogen, mit praktischen, vor Ort zu erledigenden Interessen. Insbesondere Birnbaum war, wie er einmal gegenüber dem schon ins Christliche reichenden Pessimismus Jankels äußerte, nicht sehr daran interessiert, wie es in der Hölle aussah, und ergänzte später, um größere Genauigkeit oder Ernst bemüht, daß er bereits Dinge erlebt habe, die wohl in keiner von einer Religion ausgemalten Hölle sich schlimmer wiederholen ließen.
       Niemand hatte Theo in einer Kirche oder zur Nachbehandlung kindlicher Delikte jemals von der ewigen Verdammnis gepredigt, aber ein Interesse an dunklen, nicht ganz geheuren Orten war, wie geschildert, schon seit seiner Geburt vorhanden gewesen. Solche Orte dienten als Versteck oder – bei übergroßem Andrang der Welt – als Rückzugsgebiet. Da war es keine Frage, daß seine sich früh an Bücher wendende Neugier auch von diesem Ort ewiger Finsternis gefesselt war. Wofür Birnbaum kein Interesse hatte, wurde in den ursprünglichen Leitfäden, im alten und neuen Testament spärlich und erst in späteren Dogmen deutlich beschrieben. Man führte im Konzil von Konstantinopel ohne Zweifel (wie Herr Wassilev) Pädagogik im Schilde, als man sich im Fall der Hölle auf einen Ort der zeitlich unbegrenzten Qualen, auf eine Strafe ohne Ziel oder Erlösung verständigte. Und niemand hat seitdem, wo der Mensch noch immer vom Fehlgang bedroht ist, diesen Lehrsatz aus christlicher Überzeugung ernsthaft umstürzen wollen. Die Bibel gibt es nicht her, rufen höchstens wenige Gelehrte. Aber die Bibel ist ja nur ein Buch, und insbesondere Theo mußte zugeben, daß in weniger verbreiteten Büchern Höllenbilder viel farbenfroher, detailfreudiger und durchaus anschaulicher ausgeführt waren. Wir reden hier nicht von Theos Gesangs- und Gebetbuch für die katholische Schuljugend oder vergleichbaren Fibeln, sondern von Dante oder Rabelais, von Chaucer oder Gryphius, über Literatur von Weltrang also. Theo hatte in ihnen bereits als Fünfjähriger gelesen, vielleicht nur mit einem rudimentären, seiner kindlichen Vorstellungswelt entsprechendem Verständnis, aber er besaß immerhin ein gewisses Instrumentarium, wenn er einen Ort als Hölle festlegen wollte, mochte es auch vorschnell sein. Gleichzeitig war der Junge jedoch klug genug zu wissen, daß seine Erfahrung noch wachsen und sein Begriff von dem, was eine Hölle ausmachen konnte, noch präzisiert werden mochte.
       Und so geschah es auch, denn selbst überreich mit Verstand Geschlagene lernen nicht aus.
       Als die Wanderer ihr Ziel erreicht hatten und Wassilev seinem Stiefsohn ein weiteres Abenteuer verschaffen wollte, tat Theo freiwillig, was niemand von ihm erwartete. Er hätte es nicht tun müssen und beschloß trotzdem, der Baracke einmal entronnen, die Exkursion in eine nächste Hölle zu wagen, auch wenn sein Verstand abraten wollte, weil

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