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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Jugendliche sprangen auf eilig dahinstotternde Automobile und griffen durch offene Fenster Damen an die Brust. Andere öffneten verdächtig beulentreibende Joppen und präsentierten einander Pistolenknäufe und kunstvoll gearbeitete Totschläger.
       Andere Läden, gerade solche für Kragenträger, blieben schon seit Tagen geschlossen, manche von ihnen trugen hölzerne Panzer. Hier und dort wurde Mann oder Weib ins Gebüsch, hinter eine Mauer, durch eine schnappende Tür gezerrt. Schreie gellten und erstickten, gingen in Gelächter und Palaver unter, doch das alles, spürte Kotusov, war nur ein Vorspiel. Auch ihn juckte es, seine Fäuste witterten Arbeit. Eine neue Zeit brach an, er sah und schmeckte es, in der seine Talente gefragt sein würden, eine Zeit, die ihm endlich gerecht werden wollte. Es konnte schon morgen losgehen, dort, wo man bereits Kisten Fässer und zwei Fuhrwerke zusammengeschoben hatte, um eine Barrikade zu bilden, dort in den verwinkelten Gassen, zwischen dem alten Bazar und der Malaja Arnautskaja, wo berittene Kosaken machtlos waren und Fackeln die Laternen ersetzten.
       Als sie endlich die Stroganov-Brücke erreichten, war es Theo, als würde er sich nicht mehr zu Fuß durch die Stadt bewegen, sondern wie auf Schienen über eine originalgetreue Ausgabe eines Straßenplanes gleiten. Jenseits der Anhöhe, die sie verließen, gab es keine Wegstrecke, die er mit Birnbaum nicht abgewandert war und von der er nicht selbst mit geschlossenen Augen, ohne Zögern oder die Nase anzustoßen, in die Stummstraße gefunden hätte. Unterhalb der Brücke erhob sich wachsendes Geschrei. Ein atemloser, den Odessaer Kurier schwenkender Junge lief an ihnen vorbei. Er brüllte so fremd klingende Worte wie: bürgerliche Freiheiten und Gleichstellung der Religionen und wunderte sich dabei, daß sowohl die beiden Herren als auch das Schaf in ihrer Mitte solche unerhörten Neuigkeiten ignorierten, obwohl der aus der Hauptstadt durchgesickerte Inhalt der Zarenrede doch der Tropfen war, auf den das Faß gewartet hatte, um endlich überzulaufen.
       Kotusov, in dessen beflügelten Gedanken schon der Siegerkranz verliehen war, sah sich als Feldherr in der bevorstehenden Schlacht. Er bedurfte keiner Zeitung mehr. Wassilev aber beschlich der Verdacht, daß künftige Gesellschaftsskandale der Größe des Aufruhrs, der sich da unterhalb der Brücke entfesseln wollte, nicht gewachsen sein mochten.
      
      
       Vielleicht hatte Theo die Baracke am Hafen, in der er nach seiner Entführung wieder zu Bewußtsein kam, vorschnell eine Hölle genannt. Einem Kind, obwohl in der Moldavanka aufgewachsen, dürfte es nämlich an Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Über den Himmel, der hell und klar war oder eben wolkenverhangen und grau, bei Nacht meistens in Dunkelheit und Sternenlicht getaucht, gab es keine vergleichbaren Zweifel. Der Himmel war immer da, man konnte ihn sehen. Und ob es dort oben tatsächlich Engel gab, Manna, goldene Harfen und einen gütigen Gott konnte erst im Todesfall festgestellt werden – sofern man der passenden Religion angehörte und Abhaltungsgründe nicht provoziert hatte. Der Himmel war eine physikalische Tatsache und auch als Jenseits attraktiv. Die Hölle aber war nur eine Metapher und verlangte so von jedermann, eigene Vorstellungen von ihr zu entwickeln, ohne dabei notwendig heilige Schriften im Sinn zu haben. Niemand, der nicht glaubte, sie schon einmal in dieser oder jener Form, bei klarem Verstand, erlebt zu haben.
       Aber weder die lustigsten Juden noch die Angehörigen religiöser Minderheiten in der Moldavanka hatten Theos Eindrücken nach jemals behauptet, sie fühlten sich momentan oder grundsätzlich aus diesen oder jenen Gründen wie im Himmel.
       Himmlisch, also in den Himmel gehörend oder aus ihm herab auf die Erde gefallen, konnten die Dinge ohne weiteres sein. Lisa beispielsweise entdeckte zuweilen einen himmlischen Stoff und benutzte ihn, um ein für den irdischen Gebrauch bestimmten, aber vielleicht aufgrund seines exotischen Materials übertrieben vornehmen Anzug für Theo zu schneidern. Lukin, der sich als Zahlentheoretiker von der Wirklichkeit gelangweilt fühlte, weil sie selten Idealmaß besaß, hatte das Lösungsangebot für eine Rechenaufgabe, das der Knabe machte, während er mit Kinderhand kurzfingrig in einem Glas Quittengelee bohrte, himmlisch genannt, nur weil dieser Rechenweg so unirdisch leicht, jedenfalls leichter war als der vom Mathematiker vorgesehene.

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