Trojaspiel
ausreichende Tiefe an, oder er hockte vor einem frisch durchspülten Stollen, in den er nur einen Stein hineinzuwerfen brauchte, um nachgiebigen Muschelkalk aus der Reserve zu locken und so eine dauerhafte Schlafgelegenheit zu finden. Ganz zu schweigen von den Abenteuern, die er erlebte, wenn seine Füße im lehmigen Untergrund einsanken und er nur sekundenlang Zeit hatte, zu entscheiden, ob er weitersinken oder weiterleben wollte. Obwohl diese Fragestellung, moralisch gesehen, doch absurd blieb. Weil er trotz unbefleckter Hände zum Helfershelfer herabgesunken war – ein unfehlbarer Tunnelgänger im Labyrinth, der aus seiner Lebenssituation keinen Ausweg wußte.
Der gefestigten Vertrauensstellung Theos war es am Ende zu verdanken, daß der Junge auch über die vertraglich vereinbarte Zeit hinaus für Japonchik nützlich blieb. Noch im Frühling des Jahres 1911 saßen der Räuber und sein Buchhalter und Hauslehrer Bulanov zusammen mit dem Knaben in einem Séparée des Monte Carlo . Theo war gerade aus dem Keller zurück, frisch umgekleidet von Krasnoglaz angeliefert worden und sollte später noch unter Japonchiks Aufsicht Pläne zeichnen. Man plauderte über Theos schulische Ausbildung. Der Junge machte gute Fortschritte in den Sprachen, sogar in solchen, die nicht auf dem Lehrplan standen, vor allem im Deutschen, zeigte aber kaum Interesse für Naturwissenschaften, Musik oder Schönschrift. Er mußte in Algebra, Trigonometrie und Geometrie mit seinem Lehrer Nachsicht zeigen und war als einziger Schüler gleichzeitig Primus, Klassenletzter und Durchschnitt. Darüber hinaus bediente sich Theo autodidaktisch in der Bibliothek der Diebesschule, las dort die Klassiker, griechische Tragödie, aber auch Märchen und Sagen. Er vertiefte seinen Blick in die nur geringe Auswahl zu Handwerk und Ästhetik der Baukunst und hatte hier und da auch einige Ideen entwickelt, die früheren Zeichnungen und der Kastanienmännchensiedlung überlegen waren. Die Vorstellung, daß die unterirdische, bloß zufällige Gestaltung des Raumes, die ihm vertraut war, mit der überirdischen nichts zu schaffen hatte, quälte ihn.
Wäre es ihm erlaubt gewesen, hätte Theo sicherlich mehr Lehrer verschlissen als nur Bulanov und Lukin, aber Japonchik ließ es nicht zu. Er duldete keine Fremden im Haus und Theo nicht in fremden Häusern. Die Zeugnisse waren es, was zählte an Theos Ausbildung. Sie wurden von echten Lehrern des Knabengymnasiums auf authentischen Zeugnisbögen gegen wahrhaftiges Geld erstellt. Dokumente, die so vielversprechend waren, daß Theo sich um sein Fortkommen keine Sorgen zu machen brauchte. Wenn es in Mischkas Interesse gewesen wäre, hätte er den Jungen schon morgen und ganz gleich unter welchem Namen auf die Universität schicken können. Aber er wollte Theos Schatz für sich selbst, für Mischka Japonchik, gehoben wissen. Er duldete es nicht, daß Theo seinen Reichtum mit neunmalklugen Lehrern und branchenfremden Wissenschaften teilte.
»Bei uns« – er meinte: in Odessa – »interessiert es niemanden, wer du bist, solange du einen Rolls Royce fährst, wie Zar Nicolai selbst, solange du deine Gäste unterhalten kannst und dein Schneider talentiert ist, besser noch, Monsieur: zuviel Verstand ist verdächtig in der feinen Gesellschaft, sogar verpönt, das Nachdenken hemmt die Geschäfte wie das Gewissen. Du wirst auf einer Versammlung des Börsenvereins nicht mehr Verstand finden als auf einer unserer Tagungen, aber noch mehr Entschlossenheit, mehr Gerissenheit und Gesichter, deren Lächeln noch kälter auf die Seele drückt als der Anblick von Krasnoglaz’ Fäusten.«
Theo erwiderte nichts, dachte an seinen Vertrag, war aber dankbar für gelegentliche Interventionen Bulanovs in dieser Sache. Über den Buchhalter hatte Theo während seines Unterrichts erfahren, daß er eigentlich de Boulande hieß, dem Landadel Frankreichs entstammte und einst als Repräsentant eines Bankhauses nach Odessa gekommen war. Der Fürsprache des Fürsten Borodin und seiner bevorzugten Herkunft hatte er es zu verdanken, auch einer wohltätigen Versammlung vornehmer Männer angehören zu dürfen, die öffentliche Schulen für Kinder aus höchsten Bürger- und Adelskreisen verwaltete. Er war schließlich zum stellvertretenden Direktor eines solchen Instituts und durch einen Todesfall zum Rektor des Knabengymnasiums selbst geworden. Bulanov hatte zwar an europäischen Universitäten ein Studium generale, aber nie eine
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