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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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– er streckte die Faust aus und rieb sie am Kinn des Jungen – »wenn du mich nicht mehr magst, dann stich zu, meine Erlaubnis hast du. Ohnehin ist die Vaterschaft eine Last wie das Leben. Was ist denn für ewig? Wo willst du einmal hingehen, Monsieur, wenn mein Königreich zerfällt wie mein Auto? Ich möchte lieber von deiner Kinderhand erdolcht sein und dir dabei lächelnd ins Auge sehen als auf der Polizeiwache oder von den Pogromschiks erschossen! Wo ist denn sonst der Spaß in meinem Leben? Einem Professor wie dir vertraue ich – du kennst das Ende deiner Mutter, dein eigenes und wirst auch meines wissen. Bald lieben dich die Frauen, Bengele, und dann wirst du kämpfen, damit du doch nicht einsam stirbst. Also laß uns darüber lachen! Und gleichgültig, was ich einmal tun werde, es geschieht für dich, Monsieur. Ich werde dich schützen – vor dir selbst!«
       Das Messer mit dem Affenkopf tauchte in der Hand des Räubers auf, Mischka tat, als ob er es erstaunt ansähe und rammte es in den Türstock von Madame Rubinovs Kammer, wo es bis zum Morgen steckenblieb, bis es von Theos Ersatzmutter, die mit Ausbrüchen aller Art vertraut war, entfernt und Japonchik zurückgegeben wurde.
       Der Junge blieb einsam, und vielleicht lag es tatsächlich daran, daß ein zartes Hinführen auf ein neues Gebiet der Entdeckungen, das Madame Rubinov, die ja gerade erst einen Sohn gefunden hatte, aus Konkurrenzangst nicht leisten wollte, ausblieb. Dieses Gebiet mußte sich Theo, der durch Spiegel wie durch Kellerwände hindurchsah, deswegen fast gewaltsam aufdrängen. Im Dunstkreis der Mjasojedovstraße und ihrer diversen Etablissements gafften ihm müßige, nicht immer ehrbare Mädchen und Frauen nach. Sie wollten ihn in Gespräche verwickeln, ihn sogar berühren und raunten ihm zu fortgeschrittener Stunde, wenn er mit Krasnoglaz im Rücken das Speiseabteil einer geselligen Kneipe verließ, Kommentare zu, auf die (wie auf die Vorstellung der Hölle) selbst umfangreiche Lektüre nicht ausreichend vorbereiten konnte.
       »Schöner als Jesus würdest du sein, wenn du ein Jude wärst!« rief ihm etwa Paschka, eine abgetakelte Siebzehnjährige von nur für Zipperstein himmlischem Äußeren, nach, die mit einem ihr nicht angetrauten Ehemann im Erpressungsgewerbe tätig war.
       Auch Manka hatte ein Auge auf Theo geworfen. Sie war inzwischen achtzehn geworden und besuchte Mischkas Diebesschule unter dem Elefanten . Obwohl sie von der still verschwiegenen, aber in der Legende bereits entfalteten Machtstellung Theos in Japonchiks Unternehmen wußte und sehr ehrgeizig war, leistete sie sich die mädchenhafte Schwäche, für Theo zu schwärmen, nur weil er (und darin drückte sie das Geheimnis aller Liebenden zu allen Zeiten aus) ›anders‹ war als die anderen Jungen, die sie kannte.
       In Theos Fall traf dieses so gern gepflegte Vorurteil des schwärmenden – sich verliebenden – liebenden Menschen sogar zu. Theo war definitiv anders als andere Jungen. Er war es so grundsätzlich, daß ein Anthropologe angesichts von Theos Maulwurfstalent vielleicht sogar seine gleichzeitige Anwesenheit mit Jungen wie Icko auf nur einem Stammbaum bestritten hätte.
       Aber wie fühlte Theo selbst? Wie war es ihm ergangen in diesen fünfeinhalb Jahren, in denen er nicht selten, sein Tagwerk nur so nebenher verrichtend, unter einem der zahlreichen Ausgänge auf einem Balken saß und aus Mangel an Gesprächen mit anderen Gleichaltrigen mit sich selbst Konversation machte? Er führte Aufzeichnungen in der Form eines Tagebuches, das er unter Tage verwahrte. In jener Pralinendose der Konditorei Liebmann senkte er seine Erinnerungen so tief in den Kalkstein, daß sie bestenfalls jener fliehende Partisan hätte entdecken können, der im Juni 1941 etwa sechzehn Meter unter der Erde, an der tiefsten Stelle des Labyrinths, sorgfältig in mehrere Schichten Wachstuch eingehüllt und von einer Metallkassette umschlossen, eine Kopie des Generalplans fand, in einer nicht besonders getarnten Nische. Dort, wo bis zu Theos Flucht aus Odessa auch die Dose mit dem Tagebuch Platz gefunden hatte.
       Das Original der Labyrinthkarte war zu diesem Zeitpunkt bereits verschollen, Mischkas Herz längst von einer Tschekistenkugel durchbohrt, weil der, dessen Namen man nicht aussprechen darf, dieses Organ nicht mehr schützte und den Tschekisten, die schlimmeren Banditen den Weg bahnten, Mischkas Autorität nicht geläufig werden wollte.
       Das war 1919

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