Trojaspiel
Mörder torkelten davon, drängten Umstehende beiseite. Bis zu den Knien war das Blut ihre Hosenbeine hinaufgekrochen. Ihre Blicke wirkten fahrig, sie atmeten heftig, aber schon ein paar Meter weiter lachten sie und begannen zu laufen.
Theo sitzt neben Mischka, am Stammtisch des Räuberhauptmanns herrscht ausgelassene Stimmung. Theo hält mit, grient gelegentlich, ist aber geistig nicht anwesend. Japonchik berührt keine wunden Punkte mehr. Sein Buchhalter soll gesunden, nichts ist bislang passiert, was nicht durch den Dolch oder läuternden Humor ausgeglichen werden kann. Sorgen, die Mischka bewegen, gelten den Büchern und – auch Theo. Es ist keine große Sache, denkt der Räuberhauptmann. Aber in Theos Fall würde es ihm liegen, wenn das Leid des Jungen heute abend durch ein noch größeres Leid geheilt werden würde.
Dann platzt aufgelöst und wie gerufen Alla herein, niemand kennt sie so, denn sie trinkt nicht, ist gegen Kavaliere unempfindlich und besitzt stabile Launen. Mischka mahnt Ruhe an, als sie ihre Geschichte vorbringt. Theos Miene löst sich auf. Die Tränen am Räubertisch erweichen niemanden, auch das Medaillon, aus dem als Glücksbringer untauglichen Osterei geschält, nicht. Es ruht geöffnet in Theos Hand, zeigt ein Bild, das ein Straßenfotograf von der kleinen, recht munteren Kosakin gemacht hat, in ihrem blauen Heimkleid, mit den oft geflickten Strümpfen. Damals war sie so alt wie Theo jetzt, lächelte aber mehr, war trotzdem robuster als die meisten ihrer Verehrer. Auf der blanken Seite steht die Widmung graviert, die dem keusch gewordenen Liebhaber den Kopf geraderücken sollte:
Für Theo, mein Brüderchen.
Auch Mischka nimmt das Medaillon in Augenschein, zeigt dabei keine Regung. Theo findet noch immer keine Worte, während Krasnoglaz Mankas Freundin verständnisvoll an die Bar führt. Der Räuber sieht seinen Buchhalter ungerührt an, sagt:
»Mußt jetzt selber hinausgehen, Jingele, und einen Mord begehen. Wirst dich dann besser fühlen. Das wissen wir seit tausend und noch mal tausend Jahren . . .«
An diesem Abend verschwindet Theo, und weder Krasnoglaz noch Japonchik folgen ihm. Er zieht sich zurück, wohin ihm niemand leicht folgen kann, und wenn er sich unter Tage auch nicht in ein Tier verwandelt hat, sieht er einem Menschen doch immer weniger ähnlich.
Am dritten Tag dann, Mischkas Männer haben über Nacht Petrov und vier seiner Freunde an die Masten einer Brigg und eines Schoners im Hafen genagelt, Petrov selbst aber in den mittig gespaltenen Schädel beide abgehackten Hände gesteckt, so daß Petrov, dessen Kopf im Tode nicht ansehnlicher geworden war, eindrucksvoll wie ein Hahn mit aufgestelltem Kamm über die Bucht blicken konnte, am dritten Tag entschied sich Theo, zu einem längst überfälligen Besuch in der Fürstenstraße wo der Kavalier und Bauunternehmer Wassilev seinen Wohnsitz hatte.
Dort wunderte man sich über den ungepflegten Besuch, musterte ihn so eingehend, daß eine spätere Beschreibung des letzten Gastes von Herrn Wassilev nicht schwerfiel. Der Hausmeister hielt den ungewaschenen Burschen pflichtgemäß auf, aber die glaubwürdige Aussage des übrigens höflichen Knaben, er wolle Wassilev, den Bauunternehmer, seinen Stiefvater besuchen, war eine hinreichende Entschuldigung dafür, den Jungen vorzulassen. So betrat Theo das geräumige, mit Stuck, Ölmalerei und Blumentrögen verzierte Treppenhaus, hatte dafür aber keine Augen, beachtete auch nicht die hübsch funkelnden Kristallüster, war gebannt von der Bürde seines Projekts. Dann übertrat er die Schwelle und traf den Kavalier und Mörder in exquisiter Umgebung, wurde nicht erwartet, fand, daß der von Wassilev ans Leben gestellte Anspruch auf Komfort und Luxus auch im Tode erfüllt werden sollte . . .
Zurückgekehrt in den Untergrund, spürte Theo: Es war das Leben selbst, das er seit Tagen vermißt hatte. Aus dem Tunnel in der Tiraspoler Straße gelangte er in die Christi-Verklärungs-Straße, ging oberhalb durchnäßt und schmutzig weiter. Hatte keine Kraft mehr. Sein Schlottern kam ihm vor wie Wassilevs letztes Zittern. Aber vielleicht war das nur Einbildung gewesen. Zu seiner Linken öffnete sich die Sadovaiastraße, gab den Blick frei auf das prächtige Gebäude der Konditorei Liebmann, aber Theo wurde es schwarz vor Augen. Er taumelte und fiel auf den Rücken, es war noch früh am Morgen. Ein Lumpensammler schlich über die Straße.
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