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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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Kartoffel- und Getreidesäcke, offene Marmeladeneimer, Tabak, Rosinen, Wein und Liköre, da gab es alle Sorten Gewürze von Anis bis Zimt, Sunlicht für die reinliche Hausfrau, ganze Batterien von Erbswürsten genauso wie Stollwerckschokolade und Liebigs Fleischextrakt mit seinen begehrten Sammelbildchen, die den unaufhaltsamen Fortschritt und die Schönheit der Technik priesen. Aus jedem Tiegel und Topf, aus jedem Regal und jeder Schublade lockten die Genüsse, alles war frisch und lag bereit, das Leben der zahlungskräftigen Kunden zu bereichern. Die Warenvielfalt als Momentaufnahme des gerade verfügbaren Paradieses: Kakao, Schokolade, Lakritzen, ein Blechhuhn, das für zehn Pfennig Eier mit Liebesperlen legte, Bonbons und anderes Naschwerk in Gläsern, leckere Oblaten, dann die wunderbar weichen Ballen aus Kattun und Seide, nützliche Kurzwaren, Essig und Öl, Honig, Tee und Arrak. Er schlich durch dieses Koordinatensystem, das er als Reisender oder Begleiter eines Reisenden vielleicht brauchte, um seine Position an einem jeweiligen neuen Ort zu bestimmen. Aber auch nachdem eine ganze Weile verstrichen war, reihte er sich nicht in die Schlange an der Kasse ein. Der Kaufmann gab später zu Protokoll, daß dieser junge Mann abwesend wirkte, mißgelaunt, vielleicht sogar verstört. Keiner mag solche Kunden. Die Tochter des Kaufmanns gestand hingegen errötend, daß dieser überaus wohlgestalte junge Herr wirkte wie ein fremdes Wesen, ein überirdischer Gast gleichsam, der sich verirrt hatte.
       Ein solcher Jüngling war ihr in der kleinen Garnisonsstadt vorher noch nie zu Gesicht gekommen. Backfischgestammel. Aber nein, er war wirklich schön, auf eine sehr spezielle Weise. Der Kaufmann bemerkte noch, daß der seltsame Kunde sich zwischen all den übervollen Tischen und Stellagen mit exotischen und heimischen Genußmitteln so bewegte, als wolle er einen letzten, endgültigen Eindruck von ihnen gewinnen, als würde er sich in diesem Laden nicht nur zum ersten, sondern auch zum letzten Mal aufhalten. Und dann, als das Dröhnen und Tosen einsetzte wie der Beginn einer Schlacht, als sich das Geräusch von Hunderten eisenbeschlagener Hufe näherte, die erbarmungslos und in trancehafter Routine auf den Schotter der Hauptstraße einhackten, als draußen wie immer bei solchen Darbietungen der Jubel sich erhob, Anwohner ihre roten Gesichter an Fensterscheiben preßten oder gleich auf die Straße liefen, Handwerksburschen, Kontoristen, sogar Beamte sich zu den Flickschustern, Milchmännern und Wäscherinnen gesellten und jubelten, als Hurrarufe ertönten und Mützen geworfen wurden wie bei der Kaiserparade, da stürmte der Jüngling hinaus, die Arme weit ausgebreitet, wie ein Blériot Aeroplan oder ein Farmann-Doppeldecker auf den Fleischextrakt-Bildchen oder gar das Flugzeug des legendären Kunstfliegers Pégoud selbst. Und dann gab es jenen Tumult, der die Obrigkeit des Städtchens veranlaßte, ein ernstes Augenmerk auf den jungen T. L. zu richten. War es ein Unfall? Hatte der stürmische Junge etwa nur die Mütze im allgemeinen Hochgefühl vor die Hufe der Rappen und Braunen geworfen, und als sie scheuten und die ehrfurchtgebietenden Kürassiere, diese stählerne, ritterhafte Front vaterländischen Stolzes, ihre durchgehenden Gäule beruhigen wollten, das Schlimmste zu verhindern gesucht, indem er diese Mütze wieder aufsammeln und den Grund des Aufruhrs beseitigen wollte? Oder war hier etwas ganz anderes im Gange, etwa eine Majestätsbeleidigung, ein Attentatsversuch auf die Würde des Kaisers? Die silbernen Helme, die sie trugen, auf denen der prächtige preußische Reichsadler thronte, stellvertretend für seine Macht . . . Wäre er selbst mitgeritten, es wäre ein leichtes gewesen, ihm Schaden zuzufügen. Auch wenn der alte Bismarck oder der erste Wilhelm ihre mordlustigen individuellen Feinde gehabt haben mochten und das politische Attentat ein durchaus geläufiges historisches Faktum war, das in nur noch kurzer Zeit zu seiner ganzen weltgeschichtemachenden Bedeutung finden sollte: Wilhelm II., der joviale, berlinernde, lebenslustige junge Kaiser wurde doch von allen geliebt! Jedenfalls kannte man keine Leibwächter, keine Doubles und Kugelfänger rund um seine Majestät, die oft nur von Flügeladjutanten begleitet ganz ungeniert durch Potsdam ritt, die sich im offenen Automobil ungeschützt durch das ganze Reich chauffieren ließ, unbehelligt, lediglich bejubelt, wenn die Karosse mit der kaiserlichen Standarte

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