Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
Vom Netzwerk:
gesichtet wurde und der Chauffeur den Blasebalg aus schwarzem Gummi drückte, der das laute Traräh! aus dem Horn preßte, das die Straßen freimachte – nein, damals galt: leben und leben lassen, selbst für die übelsten Blutsauger und Großindustriellen, qui travaillent pour le Roi de Prusse , die jene regelmäßig veröffentlichte Hitliste der größten Steuerzahler im Reich anführten, Friedrich Krupp und Fürst Henckel-Donnersmarck. August Thyssen, siebzigjährig, konnte, sooft er wollte, schwankend und wankend sein Schloß Landsberg verlassen und alleine hinunter in den Ort gehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und die häßliche Nase stolz in die Luft recken, während nur ein paar respektlose Straßenjungen ihn verfolgten und verspotteten. Er blieb unbehelligt auf dem Weg zu seiner Geliebten Maria, der er unten in Kettwig ein Haus gebaut hatte und die er noch immer regelmäßig besuchte.
       Wie eine Heuschrecke fiel der magere Junge unter die Pferde, Geschirr, Sporen und schwere Säbel klirrten, aber der Knabe machte keine Anstalten, sich zu schützen, während ihn die eisenbeschlagenen Hufe von allen Seiten trafen.
       War er vielleicht verrückt? Oder nur betrunken? Im Spital, in das man den jungen Mann brachte, wurde er umhegt und umsorgt wie eine hohe Persönlichkeit. Nicht aufgrund der Kühnheit seines Deliktes, sondern weil alle Schwestern, selbst das männliche Personal, selbst die Oberärzte und der Medizinalrat geblendet waren von seiner Schönheit. Es war nicht die stramme Ansehnlichkeit der üblichen preußischen Landjunker mit ihren flachen blauen Augen, den herrischen Manieren und der monogrammierten Leibwäsche, nicht die saubere, schmissige, nach Macht und Gewalt duftende Männlichkeit der üblichen Stabsoffiziere oder das süßliche pomadige Schwänzeln der feschen Ordonnanzen. Es war, so stellten die erfahreneren Schwestern fest, aber auch nicht die frivole ganz unschneidige Schönheit der zwinkernden Coupletsänger aus dem Theater. Da war bei diesem Knaben mehr etwas Geistiges, etwas, das nicht kokettierte und auch über den verführerischen Wimpernschlag der drallbusigsten Oberschwester einfach hinwegsah. Nichts Zernagtes, o nein, nichts Verklemmtes, eher etwas Engelhaftes und Unschuldiges. Augen von vibrierendem Blau, ein Teint wie Milch, rosige Lippen, die die sündhafteste Lust auslösen und gleichzeitig Schuldgefühle verursachen konnten. Als hätte man einen unreinen Gedanken an Michelangelos David verwendet. Da lag er nun im dumpfen Gewölk von Diäthyläther und Karbolsäure, verständnisvoll abgetrennt durch wachstuchbespannte Paravents vom gemeinen leidenden Volke in den übrigen Betten, und selbst der mürrische Wachtmeister im blauen Rock mit Säbel und Pickelhaube, der vor der Tür des Krankensaales wachte, solange die Untersuchung des Falles andauerte, war sich sicher, daß man es hier nur mit einem Unglücklichen zu tun hatte, aber keinesfalls mit einem Verbrecher . . .
       Ein Foto, das die Parade der Kürassiere zeigen wollte und das erste Unglück T. L.s porträtierte, zusammen mit seiner reizenden Gestalt, lag der von Mahgourian entdeckten Akte in der Tat bei.
       Wie groß mußte die allgemeine Überraschung gewesen sein, als man ihn nur kurze Zeit später, er war trotz seiner Verletzungen aus dem Krankenhaus geflohen, wegen einer ganz anderen Sache suchte, wegen eines richtigen und doch unglaublichen Kapitalverbrechens.
      
      
       Mahgourian hatte sein Alter abgelegt. Er bewegte sich behende durch die Stadt und die zahlreichen Stätten ihrer begrabenen Vergangenheit, suchte in den Archiven, den Bibliotheken und Dokumentationszentren mit der Zielstrebigkeit eines inspirierten Archäologen, der vergessene Schätze der Menschheitsgeschichte aufspüren will. Männer mit Bärten, stechenden Augen und Hosenbünden auf Brusthöhe wurden dabei seine verschwörerischen Freunde, genauso wie vorzeitig ergraute Kaum-über-Zwanzigjährige mit chronischer Bindehautentzündung und ausgeprägter Stirnglatze, die ihre Zukunft brüchigen Aktenkartons, zerfallenden Ordnern und von altem Hanfband zusammengehaltenen Urkundenresten verschrieben hatten. Natürlich war der alte Mann kein Wissenschaftler und besaß nicht die Legitimation eines Forschungsauftrages. Aber auf gewisse Weise war er wohl eine Art Erlöser, wenn er mit seinem Maulwurfscharme, seiner Vielsprachigkeit und dem Anekdotenfeuerwerk in die grauen Büros der professionell wühlenden Gelehrten trat.

Weitere Kostenlose Bücher