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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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im Minutentakt zu lösen, nicht berechtigt gewesen war. Sein junger Gast turnte sie ihm in Sekunden vor.
       Eines Vormittags stand der Mann mit dem Bart wieder einmal auf der Sandfläche neben dem Plattenweg, der zur Gartentreppe führte, und füllte die Felder des größten der pythagoreischen Zahlenquadrate. Bei den letzten drei der neun Reihen angekommen, merkte er, daß Tibor neben ihm stand. Der Knabe bat um den Stecken und füllte die restlichen siebenundzwanzig Felder aus, ohne ein einziges Mal zu zögern.
       »Die Summe ist immer dreihundertsiebenundzwanzig, nicht wahr?« fragte der Junge unschuldig.
       »Du hast dich damit beschäftigt, du kennst die Formel?« fragte der Gastgeber ungehalten zurück.
       Der Mathematiker, für den die Konstruktion dieser uralten Quadrate nichts weiter als ein banaler Zeitvertreib war, mit dem er sich entspannen konnte oder ablenken davon, daß er noch immer keinen Beweis für die Goldbachsche Vermutung gefunden und die Professur in der Nachfolge Dedekinds in Leipzig abgelehnt hatte, der Mathematiker hatte plötzlich eine Idee.
       Warum versuchen wir es nicht einmal, dachte er bei sich, vielleicht ist er ja dieser eine unter Millionen. Vielleicht wird der Beweis von jemandem angetreten, der über einen Gartenzaun gesprungen kommt.
       Der berühmte Mathematiker Euler selbst, dem Goldbach am 7. Juli 1742 in einem Brief die vertrackte Vermutung servierte, war etwa so alt wie Tibor, als er seinen Magister machte.
       »Kannst du mir vielleicht auch erklären, warum jede gerade Zahl, die größer ist als vier, sich als die Summe zweier Primzahlen schreiben läßt?«
       Sein Schützling legte die Stirn in Falten und kniff die Lippen zusammen, dann begann er an den Fingern der rechten Hand abzuzählen, während meinem Urgroßvater Schweißperlen auf die Stirn traten. Aber schließlich lachte der Knabe lauthals los.
       »Nein«, sagte er.
       Der Mann mit dem Bart atmete hörbar aus.
       »Weil es mich nicht interessiert«, fügte der Junge hinzu.
       »Das sind alles nur Zahlen.«
       Was für ein arroganter Bengel!, dachte sich der Mathematiker.
       »Und was ist damit«, sagte er fast wütend und stach den Stecken in den Sand.
       »Das ist eine Matrix, eine Urform. Für mich stellt sie einen geometrischen Raum dar wie ein Haus – oder eine Fläche wie ein Garten. Es hat eine Bedeutung in der Natur.«
       »Unsinn«, murmelte der Gastgeber unsicher.
       Als der Krieg ausbrach, begann mein Urgroßvater, sich um den Jungen Sorgen zu machen. Nicht nur, weil die Chancen jetzt geringer standen, ihn unbemerkt außer Landes zu bringen. Natürlich wäre es möglich gewesen. Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, den Jungen nach Amerika einzuschiffen, irgendwelche Papiere für ihn würden sich schon besorgen lassen. Aber dann? Ohne Geld oder eine feste Perspektive war der Knabe genauso hilflos, wie er selbst es sein würde. Das glaubte er zumindest. Oder wollte es glauben. Ein wenig dachte er natürlich auch an sich. Der Junge war eine interessante Gesellschaft. Er war sogar mehr als das. Er war wie ein Sohn. Gerne wäre er mit ihm auf Reisen gegangen, eine menschenfreundlichere und sonnigere Art, seine Wißbegier zu stillen. Aber das schien nicht mehr möglich. Und alleine auf Reisen gehen außerhalb des kriegsdurchtobten Europas? Das wäre ein fragwürdiges Vergnügen, außerdem konnte er den Jungen doch nicht alleine lassen.
       Ein Geheimnis umgab den Knaben. Wer auch immer ihn in die Welt gesetzt und aufgezogen hatte, wenn er nicht umgekommen war (dies galt ihm als die einzige zulässige Entschuldigung), dann war er ein Verbrecher, weil er die Talente dieses Jungen nicht gefördert hatte. Und sein Beschützer nahm sich vor, diesen Mißklang des Schicksals auszugleichen. Hier, vermutete er nun seinerseits, lag vielleicht ein bedeutenderes Verdienst, als mit einem Beweis in der idealisierten Welt der Mathematik zu erwerben war.
       Tibor war schwermütig geworden. Diese Stimmung, die niemand besser kannte als der Mathematiker, sie schien den Gastgeber verlassen und den Knaben befallen zu haben. Der Entflohene, noch immer Gesuchte verließ den Speicher kaum noch. Mehrmals am Tag kam mein Urgroßvater mit einer Teekanne und Wurstbroten oder einem Teller Suppe auf den Dachboden. Meistens trug er das unberührte Tablett wieder hinunter in die Küche. Er las dem Jungen aus Büchern oder aus der Zeitung vor, er bat ihn, selber vorzulesen,

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