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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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pulsierende Schläfenarterie hinweisend, doch den Kragen zu lösen und die Mütze abzunehmen, um eine Migräne zu vermeiden. Dann ging er zurück zum Haus.
       Das Vertrauen seines Schützlings in andere Menschen war nicht sehr groß. Mein Urgroßvater war sensibel genug, um das schnell zu begreifen. Um so mehr interessierte ihn, in welcher Gesellschaft sich der Knabe früher befunden haben mochte. Giocondo? Dieser Mann habe ihn als Sekretär beschäftigt. Woher? Auf einem großen Schiff sei er vor einem Jahr nach Italien gekommen. Und wenn man nur ansetzte, um nachzufragen, welchen Weges, zuckte er die Schultern und wackelte mit dem Kopf wie ein Clown.
       »Hab ich vergessen«, sagte er. Und was ist mit Giocondo? Aber der Junge schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Dieser Italiener sei ein Verrückter gewesen, und dann rollte der Knabe theatralisch mit den Augen.
       Der verschwundene Italiener, das war möglicherweise Mord. Hier lag der kritische Punkt, an dem das Vertrauen des Gastgebers für den jungen Flüchtling verwerflich sein und gefährlich werden konnte.
       Der Knabe bemerkte, daß sein Gegenüber nicht überzeugt war von diesem lustigen Auftritt. Er sah jetzt für einen Augenblick durch meinen Urgroßvater hindurch, seine Augen wirkten auf einmal so kalt, so leblos, daß man sich fürchten konnte, dann senkte er abrupt den Kopf und faltete die Hände wie zum Gebet im Schoß.
       »Ich interessiere mich nicht für Politik«, sagte er sanft.
       »Aber Giocondo war ein schlechter Mensch . . .«
       Mein Urgroßvater hatte von den Tafeln und Büchern im Zimmer des Italieners gehört und gelesen, daß die politische Polizei ermittelte. Er glaubte zu wissen, worauf der Knabe hinauswollte. Einer dieser zündelnden Anarchisten. Ein philosophisch Verwirrter vielleicht . . . Diese gefährlichen Idealisten, die sich einer ganz unausgegorenen Sache mit kriminellem Nachdruck anhängen, sie kommen oft aus den besten Familien.
       »Giocondo . . . Giocondo . . . hm?« – »Ein Mann jedenfalls mit einer wunderschönen Frau«, sagte der Knabe.
       Da lachten sie zum ersten Mal gemeinsam, und der gebildete Mann wunderte sich ein weiteres Mal über den vielleicht gerade sechzehnjährigen Knaben.
       »Ich heiße Tibor Lennartz«, sagte der Knabe, und mein Großvater glaubte ihm.
       »Tibor ist die ungarische Form von Tiberius«, fügte er hinzu.
      
       Der fünfunddreißigjährige, noch unverheiratete Mathematiker und Großaktionär war das Gespräch mit Halbwüchsigen nicht gewohnt. Aber jemand, der unter geistig wenig beweglichen Erwachsenen als sonderlich gilt, hat möglicherweise doch Gemeinsamkeiten mit einem Jugendlichen, dessen Neugier, wie sich herausstellte, auf jede Form von Wissen fast grenzenlos ist.
       Mein Urgroßvater mußte erstaunt feststellen, daß nichts, aber auch gar nichts zurückgewiesen wurde, kein Roman, kein Lehrbuch, kein Gedichtband, keine Gedankenkritzelei, keine verquaste Theorie, kein Foto oder Kunstgegenstand.
       Auch wenn das Hauspersonal unterrichtet und grundverläßlich war, mußte der Junge auf dem Speicher versteckt werden, zumal der Gast selbst diese relative Abgeschiedenheit in einem fürstlich großen Raum vorzog. Man richtete ihm dort einen Wohnbereich ein, dessen Ausstattung mit der Zeit immer komfortabler wurde. Die Bibliothek wuchs am schnellsten.
       Das Lesetempo des Jungen war beeindruckend. Im Bereich der unterhaltenden Literatur brachte er manche Bände, wie etwa den umfangreichen Don Quichotte oder Sternes Tristram Shandy in so kurzer Zeit zu Ende, daß mein Urgroßvater den Verdacht hatte, er habe diese Werke bereits gekannt. Aber stets, wenn man ihm einen neuen Leseschinken anbot (er wagte sich in der ersten Zeit nicht in der Bibliothek des Gastgebers selbst zu bedienen), drückte er auf seine übertriebene Art Freude und Dank aus.
       Noch erstaunlicher war, daß er die überall im Hause herumliegenden Zeitungen, Reisemitbringsel, wie etwa das Strand Magazine oder die New York World mit ihren anschaulichen Denksportaufgaben und Kreuzworträtseln durcharbeitete. Der im Reichtum gestrandete Mathematiker, der sich mit diesen gerade populär werdenden Hirnturnereien einen halbwegs anspruchsvollen Zeitvertreib geschaffen hatte, mußte feststellen, daß seine müßige Freude darüber, all die Grätschen, Salti und Hechtrollen des Verstandes, mit denen ein Durchschnittsbürger langen Sonntagnachmittagen die Zähne ausbrach,

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