Trojaspiel
Erkern und einer Altane auf Säulen, die fast so eindrucksvoll waren wie diejenigen am Aufgang zu seinem eigenen Haus. Was dem Gebäude fehlte, waren Zimmer, Flure, Wirtschaftsräume und der Abort, es war leer bis auf ein Durcheinander von Tunneln oder Gängen, die das Bauwerk wie Darmschlingen ausfüllten.
Was zum Teufel . . . der Mathematiker versuchte den Linien der seltsamen Röhren mit dem Finger zu folgen, um so einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Aufrißzeichnungen und Schnitten durch das Gebäude herzustellen, aber es gelang ihm nicht, das System des Darmknäuels zu verstehen.
Die letzte Zeichnung des Blattes war der Versuch, das aufgeschnittene Haus und sein monströses Innenleben axonometrisch zu zeichnen, so daß die Raumtiefe deutlich wurde, aber auch dadurch wurde dem Mathematiker nichts klarer. Das geometrische Verfahren, mit dem dieses Lianengewucher übersichtlich dargestellt werden konnte, mußte wohl erst noch erfunden werden.
Sollte dieses Röhrenknäuel ein Lebewesen darstellen? Oder eine Art Irrgarten? Aber wer oder was würde in einem solchen Haus leben wollen?
Das sind . . . das ist schlechterdings Unfug, ging es dem skeptischen Förderer durch den Kopf.
»Also doch ein Künstler«, murmelte er.
Unter die Stapel von Fach- und Lehrbüchern für den angehenden Architekten, die der Mathematiker in die Werkstatt getragen hatte und die nun die Regalböden der Bücherschränke durchbogen, waren auch diskret ein paar unspezifische über Wissenschaftsphilosophie, Zahlentheorie, Stereometrie, die Harmonielehre des Pythagoras und seine Zahlensymbolik gemischt, allesamt Versuche, diesem naturversessenen Wirrkopf zu der Wissenschaft hinzuführen, die am besten geeignet war, die Welt inklusive aller architektonischen Herausforderungen zu erklären: Die Mathematik. Mein Urgroßvater hatte Lesezeichen in schwelgerische Vorworte geheftet, Eselsohren gesetzt und sogar Anstreichungen und Notizen gemacht.
Die Zahl ist das Maß aller Dinge (!) Pythagoras.
Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben (!!!) Galilei.
Aber Tibor baute weiterhin unbeirrt an befremdlichen Modellen, und auf seinem Nachttisch lagen Issels Handbuch der Wohnungsbaukunde , Opderbeckes Zimmermann und Haasens Schattenkonstruktionen .
Aber diese Dinge können doch nicht . . . wie sollte so etwas jemals gebaut werden, fragte sich der Mathematiker.
Der junge Baumeister benutzte Spiegel verschiedener Größe, die er mit der Hand und an biegsamen Holzruten und Schnüren befestigt in die zusammengefügten Röhren und Tunnel schob, um ihren Verlauf zu kontrollieren. Das mochte ja gerade noch angehen, wenn man ein wenigstens erstaunliches Abstraktionsvermögen besaß, das jeden reflektierten Winkel erklären konnte und ein mindestens phänomenales Erinnerungsvermögen, das jede noch so feine Holznuance erkennen und damit die Bausteine des Tunnelsystems unterscheiden konnte.
Aber die Innenkonstruktionen wurden immer feiner, und während der Offensive an der Somme, bei der vierhunderttausend Briten, vierhunderttausend Deutsche sowie zweihunderttausend Franzosen ihr Leben verloren, gelang es dem jungen Baumeister bereits, die einzelnen Teilabschnitte seiner Labyrinthe ohne optische Hilfsmittel allein aufgrund seiner Vorstellungskraft zusammenzusetzen.
Und dann ungefähr zur Zeit des Kriegseintritts der Amerikaner im April 1917 kam es zu einem leidenschaftlichen Disput zwischen dem Mathematiker und seinem Günstling, der den jungen Baumeister bewog, eine letzte Veredelung seiner Modelle auszuhecken und damit gleichzeitig einen Beweis anzutreten, der auch den Mathematiker zufriedenstellen konnte.
Es ging im wesentlichen darum, daß mein Urgroßvater, einmal mehr frustriert von dem gescheiterten Versuch, den Wissensdurst des Knaben mit mathematischen Themen zu kontaminieren, sich zu der Behauptung hinreißen ließ, das große Ziel der Menschheit in der fernen Zukunft bis zum Ende der Welt überhaupt werde sein, alle Dinge, alle Lebewesen, ihre Strukturen und Verhältnisse, von der Schnecke bis zur Konstellation der Planeten, in Zahlen auszudrücken. Der achtzehnjährige Jüngling hatte wenigstens in den letzten drei Jahren keine Schule von innen gesehen oder auch nur das Haus verlassen, obwohl ihm die Entscheidung darüber freigestellt geblieben war, trotzdem widersprach er mit aufreizender Nonchalance und behauptete, das bedeutendste Ziel
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