Tropfen im Ozean
geworden. Wolken jagten in phantastischen Farb-und Formkombinationen über den Himmel, spielten Fangen mit sich selbst und dem Wind. Die Blätter waren von den Bäumen gefallen und es roch zum ersten Mal nach Schnee. Der heiße Tee in den Bechern wärmte unsere Hände und unseren Bauch.
„Wir machen etwas Positives draus“, erklärte ich. „Ich könnte auch nichts anderes machen... selbst wenn E!Liza das Biest wäre, für das ich sie gehalten hatte, selbst dann könnte ich es nicht“.
„Denk dran, meine Kleine“, sagte er plötzlich: „Wenn wir etwas erlangen, und gleichzeitig unabhängig davon sind, erreicht es einen viel größeren Wert“.
„Das hast du mir schon mal gesagt“, murmelte ich. „Ich arbeite dran. Ohne den Wunsch nach Anerkennung zu leben... ich spüre, dass Freiheit darin steckt, aber gleichzeitig spüre ich auch, wie gebunden ich noch bin...“
„Du schaffst das“, versicherte er mir. „Glaub mir, du schaffst das. Es ist toll, dass du diese Dinge überhaupt erkennst. Und noch etwas möchte ich dir auf den Weg geben: Wenn du einen Menschen anschaust, dann sieh immer sein Gutsein, denn dann siehst du mit den Augen eines Heiligen... und du weißt, aus keinem anderen Grund sind wir hier auf der Erde“.
Verwundert hörte ich zu. Das klang alles so zusammenhanglos, als läse er mir aus einer Zitatensammlung vor.
Doch dann warf ich einen Blick auf ihn, auf seine so wunderbar intensiven, blauen Augen, seinen ewig verschmitzten Ausdruck, und ich erkannte, dass ich ein besserer Mensch geworden war, weil er genau das getan hatte: mich mit dem Blick eines Heiligen angesehen hatte - von Beginn an. Er sah nicht meine Begrenzungen, obschon er nahezu tagtäglich mit mir darüber diskutiert hatte. Er sah eine Reinheit, ein Gutsein an mir, die das Beste aus mir herausholte. Weder war er blind für meine Unzulänglichkeiten noch davon belastet. Seine Sicht ging tiefer als bis zur äußeren Hautschicht. Er blickte jenseits von allem. Er hatte diese Stunden, Tage, Wochen und Monate dem Bewusstwerden des Gutseins in mir gewidmet, und da er das Licht in mir sah, fing auch ich an, es zu sehen, ein Licht, das ich wahrnehmen konnte, wenn auch nicht so beständig wie er. Und mir wurde klar, dass diese Sichtweise nicht nur mein eigenes Weltbild positiv einfärben, sondern auch das Beste aus anderen Menschen hervor holen würde. So, wie er es mit mir getan hatte. So, wie jeder die Chance dazu hatte. Es war kein Privileg – es stand jedem offen.
Glücklich schlang ich den Arm um ihn.
„Es ist so schön, bei dir zu sein“, murmelte ich und drückte meinen Kopf an seine Schulter. „So schön! Ich bin dir so dankbar!“
„Ja, das ist schön, dass du dankbar sein kannst“, antwortete er und strich mir über den Kopf. „Dankbarkeit ist die höchste Form von Liebe... und nun, mein Kleines... ist es Zeit“.
Erstaunt sah ich auf die Uhr.
„Wir haben doch noch Zeit!“
„Nein, die Zeit ist um“, antwortete er ernst. „Sie ist um und du weißt, was zu tun ist“.
„Äh... ja“, sagte ich verunsichert. Warum machte er heute früher Schluss? Er stand auf, faltete seine Decke zusammen und legte sie auf die Bank. Ich tat es ihm nach, unruhig, und holte meinen Rucksack. Wie so oft gingen wir schweigend zur Tür.
Ein Gefühl, das ich nicht wahrhaben wollte, machte sich in mir breit, eines, das mir so ungeheuer vorkam, dass ich das Schweigen brach.
„Wo bist du, wenn es Winter wird?“ fragte ich, ein paar Schritte vor der Tür und blieb stehen.
„Och, mal sehen. Ich komm schon unter“, wich er aus und ging weiter.
„Und... du willst mir immer noch nicht sagen, wie du heißt? Wer du bist?“
„Ist das immer noch wichtig für dich?“
„Ja!“ rief ich. „Weil ich eine Chance haben möchte, dich wiederzufinden! Ich hab Angst, dass du gehst! Und nicht wiederkommst!“
Wir waren an der Tür angelangt, er steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Und wenn es so wäre?“ fragte er und drehte sich zu mir um. „Wenn es so wäre... was ist dann? Du brauchst mich nicht.“
„Doch!“ rief ich panisch. „Ich brauche dich! Mehr als du denkst! Ich brauche dich! Ich will nicht ohne dich...“
„Vertrau doch endlich“, unterbrach er mich eindringlich. „Vertrau dir. Vertrau dem Leben... du bist doch schon so weit gegangen. Nun geh weiter! Geh!“
Die Worte klingelten in meinen Ohren, sie drangen nicht durch, nicht wirklich, ich wollte sie nicht hören. Panisch sah ich auf die Tür, die er
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