Troposphere
Erinnerung zu rufen, die ich während der letzten Jahre gelesen habe. Die Schwerkraft funktioniert auf ähnliche Weise, nicht wahr? Aber in Apollo Smintheus' Dokument steht nichts über Masse. Es geht nur um Entfernung und Zeit. In der Tat scheint er nahezulegen, dass in der Troposphäre Entfernung dasselbe ist wie Zeit. Ich weiß, dass das im »realen« Universum ebenfalls zutrifft. Es wird Raum-Zeit genannt. Aber im normalen Leben bemerkt man es nicht. Man kann nicht mit der Zeit herumspielen, indem man einen Ausflug ins Einkaufszentrum oder zum Mond unternimmt. Wenn man mit der Zeit herumspielen will, muss man sehr schnell in einem Raumschiff von der Erde wegfliegen und sich, ohne zu beschleunigen oder langsamer zu werden, mit einer Geschwindigkeit weiterbewegen, die der des Lichts sehr nahe kommt. Wenn man dann zurückkommt, wird man feststellen, dass auf der Erde »mehr« Zeit vergangen ist, bezogen auf die Passagiere im Raumschiff. Was in der Troposphäre zu geschehen scheint, ist das Gegenteil dessen. Oder ist es eigentlich dasselbe? Mein Magen knurrt. Ich muss bald wieder etwas essen.
Aber ich kann nicht aufhören, über die Schlösser und Türme mit ihren verzierten Spitzen und den schweren Zugbrücken nachzudenken. Als ich die Zeilen hinschreibe: Sie könnten sich die Troposphäre, die Sie sehen, als Metapher vorstellen. Die Troposphäre ist in einem gewissen Sinn nur eine Welt der Metapher, frage ich mich, was die Schlösser, falls sie Metaphern sind, repräsentieren. Und dann frage ich mich auch: Wenn man in die Troposphäre geht, bekommt man dann sofort Zutritt zum Bewusstsein der Individuen, die einem in der physischen Welt am nächsten sind? Und wenn das der Fall ist, gehören dann die Schlösser zu den frommen Menschen in diesem Haus? Und wer hat entschieden, dass sie Schlösser sein würden? Sie oder ich?
Ich bin mit der Niederschrift des Dokuments fertig. Ich glaube, es ist nahezu korrekt. Mir fällt das Erinnern leichter, als ich annahm, aber dann denke ich daran, was Apollo Smintheus mir gesagt hat, und mir wird klar, dass meine Troposphäre (sie ist ja für jeden verschieden) sich in meinem Kopf befindet. Dieses Dokument ist jetzt eine Erinnerung. Aber die Erinnerung beginnt schon, es zu zersetzen. Ich betrachte eine Zeile, die ich geschrieben habe: Sie können in der physischen Welt von Mensch zu Mensch springen. Das klingt nicht richtig. Habe ich etwas ausgelassen? Ich lege meine Stirn in Falten, als würde das meine Erinnerungen aneinanderrubbeln und für eine Art belebende Reibungselektrizität im Gehirn sorgen. Es funktioniert. Sie können in der physischen Welt von Mensch zu Mensch springen (aber nur, wenn der Mensch in dem Moment keinen Schutz gegen die Welt allen Geistes hat). Okay. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber zumindest steht es da jetzt schwarz auf weiß.
Ich gähne. Mein Körper will schlafen – und essen –, aber mein Geist will damit weitermachen: will weiter Fragen beantworten, bis keine Fragen mehr da sind. Ich überfliege noch einmal meine Liste. Ich muss lächeln, als ich den Verweis auf Heidegger sehe. Wie kam Apollo Smintheus dazu, über Heidegger nachzudenken? Aber irgendein Instinkt sagt mir, dass Apollo Smintheus weiß, wie er Menschen Dinge in ihrer eigenen persönlichen Sprache erklärt, und meine Sprache enthält Begriffe wie existenziell und ontisch genauso wie ihre grandioseren Gegenstücke existenzial und ontologisch. Ich habe nie vergessen, was ich in »Sein und Zeit« gelesen habe, obwohl es eine der großen Unterlassungssünden meines Lebens ist, das Buch nicht zu Ende gelesen zu haben. Ich erinnere mich an diese Begriffe, weil ich sie mit so vielen Randnotizen versehen habe.
Als ich »Sein und Zeit« las, dachte ich immer als »Sein und Mahlzeit« daran: Das war mein ganz privater Witz während des Monats, den ich dafür brauchte, die ersten hundert Seiten zu lesen. Es dauerte so lange, weil ich es nur beim Mittagessen las, bei einer Suppe mit Brötchen in einem billigen Restaurant, das unweit meiner damaligen Wohnung in Oxford lag. Das Haus hatte überhaupt keine Heizung, und es war feucht. Den Winter über hatte ich Atemwegsinfektionen, und im Sommer war das Haus voller Insekten. Ich versuchte, so wenig Zeit wie möglich dort zu verbringen. Also ging ich jeden Tag in das Restaurant und saß dort eine Stunde oder zwei und las »Sein und Zeit«. Ich glaube, ich schaffte rund drei oder vier Seiten am Tag. Während ich mich daran erinnere, frage ich
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