Troposphere
will dich sehen«, wobei ihre matten Augen auf meinen Hosenstall gerichtet waren. Natürlich meinte sie meinen Schwanz, als sie »dich« sagte. Warum tun Frauen das? Ich will dich in mir haben. Nein. Du willst nur meinen Schwanz, und den großen Klumpen Fleisch, der daran hängt, könntest du genauso gut ignorieren, den Mann mit einem Gehirn, das niemals »in dir« sein wird und das du nie verstehen wirst. Es hatte ein Kolloquium sein sollen. Ich schlug vor, ihr die Augen zu verbinden, nicht weil mich das anmacht, sondern weil ich nicht wollte, dass sie mich sah. Es nahm natürlich ein unschönes Ende. Was ist so schlimm daran, wenn man nichts sieht? Dann ist alles im Kopf und vielleicht nicht mal gegen die Universitätsvorschriften. Aber sie drohte ohnehin, mich zu melden, als ich (buchstäblich) aufhörte, sie zu sehen. Ich begehrte sie nicht einmal: Sie sah aus wie ein Stück schmelzende Butter.
Ich verabredete mich mit Lura in einem Café in einer Kunstgalerie in London. Was sie sagte, hätte mich fast umgehauen. Sie besaß eine Ausgabe von »The End of Mister Y«, vielleicht das einzige bekannte Exemplar: das in Deutschland. Das war der eigentliche Grund dafür, dass sie zu meinem Vortrag gekommen war. Das Buch hatte ihrem Vater gehört. Er war einer der ersten Naturwissenschaftler gewesen, erklärte sie, die sich mit der Theorie der Quantenmechanik beschäftigt hatten. Sie wollte eindeutig nicht viel über ihn reden, aber sie skizzierte das Wesentliche: dass er ein Zeitgenosse von Erwin Schrödinger und Niels Bohr gewesen sei, sich aber geweigert habe, den vielen jüdischen Physikern aus Europa nach Amerika zu folgen, um dort an der Atombombe und anderen, ähnlich teuflischen Projekten zu arbeiten. Stattdessen sei er an seiner Universität geblieben und habe weiter an seiner welterschütternden Theorie gebastelt – deren Einzelheiten inzwischen verloren sind. In der Woche, bevor er ins Konzentrationslager abtransportiert wurde, hatte er in seinem Tagebuch einen Eintrag über »The End of Mister Y« geschrieben. Er war sehr aufgeregt darüber, es aus London bestellt zu haben, und glaubte, dass es eines von sehr wenigen noch existierenden Exemplaren war. Einer seiner letzten Tagebucheinträge spricht von dem möglichen Fluch des Mr. Y. Lura sei schockiert – aber auch fasziniert – gewesen, sagte sie, als sie den Titel meines Vortrags zu Gesicht bekam. Diese Formulierung war ihr, außer im Tagebuch ihres Vaters, noch nie begegnet.
All das erklärte sie mir, ohne auch nur einmal ihren Gesichtsausdruck zu verändern. Aber sie fuhr sich immer wieder mit der Hand durch die Haare und machte lange Pausen zwischen einzelnen Teilen der Geschichte. Als unser Kaffee kam, ließ sie ihre Haare in Ruhe und fing an, am Griff ihrer Tasse rumzuspielen, zog ihn hin und her und steckte ihren dünnen kleinen Finger durch das Loch.
»Das wär's also«, sagte sie. »Ich dachte, Sie würden gerne etwas über die Geschichte des Buchs erfahren, oder wenigstens, was dieses besondere Exemplar betrifft.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte ich. »Vielen Dank dafür, dass Sie sich die Zeit für ein Treffen genommen haben.«
Obwohl ihre Augen so aussahen, als wolle sie lächeln, tat sie es nicht.
»Das Buch war wichtig für meinen Vater«, sagte sie.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also fragte ich nur: »Haben Sie es gelesen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, es ist wichtig – schließlich versuchen immer wieder Leute, es mir abzukaufen.«
»Aber Sie verkaufen es nicht?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Sie seufzte. »Sosehr ich das Buch auch hasse, ich kann es nicht verkaufen. Ich habe keines der Bücher meines Vaters verkauft. Außerdem mag ich die Leute nicht besonders, die es kaufen wollen. Sie haben in letzter Zeit angefangen, mir zu drohen. Aber sie können nichts machen, wenn das Buch in einem Bankschließfach liegt. Vielleicht planen sie einen Raubüberfall?« Jetzt lächelte sie doch. »Na ja, ich glaube nicht, dass sie damit viel Glück haben werden.«
»Wer sind die?«
Schulterzuckend trank sie einen Schluck Milchkaffee. »Amerikaner.« Es entstand eine lange Pause. »Na ja«, sagte sie. »Ich nehme an, Sie würden es gerne sehen, nicht wahr?«
»Wirklich?« Ich muss mich angehört haben wie ein Meiner Junge, dem man in Aussicht stellt, eine Sammlung seltener Comics gezeigt zu bekommen. Aber ich konnte mich nicht bremsen. »Ich meine …«
»Natürlich. Es wird von
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