Troposphere
intellektuellem Wert für Sie sein. Das kann ich verstehen. Mein Vater hätte es gutgeheißen, und meiner Ansicht nach reicht das als Begründung.«
»Hat es sonst jemand gesehen?«
»Nein. Ich habe es mir kurz angeschaut, aber ich konnte es nicht anfassen …«
»Warum nicht?«
Sie schaute auf den Tisch. Da war ein winziger Krümel Demerara-Zucker, den sie mit einem Finger zerdrückte. Dann schaute sie wieder zu mir auf und lachte verlegen.
»Familienaberglaube?« Ihr Lachen schrumpfte zu einem Seufzer zusammen. »Ich bin Naturwissenschaftlerin, und natürlich weiß ich, dass Hitler meinen Vater umgebracht hat, und nicht ein Buch, das mit einem Fluch belegt ist. Aber trotzdem … Am Tag, nachdem er es erhielt, haben sie ihn abgeholt. Seine letzte Tat als freier Mann bestand darin, das Buch in einem Bankschließfach zu deponieren.«
Wir redeten noch ein bisschen weiter, und sie erklärte mir, dass sie im folgenden Monat nach Deutschland ginge, und lud mich zu einem verlängerten Wochenende ein. Natürlich wollte ich der Einladung Folge leisten: um das Buch zu sehen, um das Buch zu berühren. Aber ich machte höfliche Einwände – ob sie sich mit all diesen Erinnerungen konfrontieren wolle?, ob sie zulassen wolle, dass sich ein Fremder in ihre Familienangelegenheiten einmischt? usw. usw. –, und sie wies sie alle höflich zurück, womit ich fest gerechnet hatte. Also führ ich nach Deutschland. Es war die erste Semesterwoche, und es war mir recht, ein paar Tage dem Verwaltungskram und den E-Mails und den Konferenzen entfliehen zu können. Ich neige dazu zu arbeiten, wenn ich zu Hause bin, und ich bin ein absoluter Versager, wenn es darum geht, Urlaub zu nehmen. Den Donnerstagabend verbrachten wir damit, uns ein absurdes Theaterstück anzusehen, und am Freitag gingen wir zum Bankschließfach. Es war Sommer, aber die Luft war grau und feucht, und ringsum schien alles von allem andern langsam erstickt zu werden. Als ich das Buch in der Hand hielt, schaute sie zu Boden und sagte fast sofort: »Ich möchte, dass Sie es an sich nehmen. Nehmen Sie es mit.«
»Wollen Sie es verkaufen?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte sie. »Nehmen Sie es einfach mit.«
An unserem letzten gemeinsamen Abend schliefen wir auf eine traurige Art miteinander. Es hatte etwas von einer banalen Unvermeidlichkeit an sich, wie Grippe im Winter. Ich nahm an, ich würde sie nie wiedersehen. Sie hasste das Buch, und sie hatte es mir gegeben. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie es wieder zurückhaben wollte. Ich verstand wirklich nicht, was vor sich ging, aber ich stellte auch nichts in Frage. Ich brauchte dieses Buch: Ich wollte es mehr, als ich je irgendwas anderes gewollt hatte.
Dann ereigneten sich merkwürdige Dinge, die ich seinerzeit einer Art Parapraxis zuschrieb, die sich selbst unterminierte. Zuerst vergaß ich, das Buch einzupacken; dann vergaß ich, meine Reisetasche vom Gepäckband im Flughafen zu nehmen. Irgendwie kam ich dann aber nach Hause, ohne sie irgendwo liegenzulassen. An jenem Nachmittag musste ich an einer Universitätsveranstaltung in der Kathedrale teilnehmen – aber sie verging wie im Fluge. Ich saß neben meiner Doktorandin Ariel Manto, und ich glaube, ich habe es sogar geschafft, ein wenig mit ihr zu flirten (harmlos, harmlos). Dann entschuldigte ich mich und eilte nach Hause. Da saß ich in meinem alten Wintergarten und las das Buch, während die Sonne draußen unter- und wieder aufging. Weil ich anschließend nicht schlafen konnte, trank ich eine gute Flasche Wein und weinte ein paarmal, allein wegen dieser unglaublich schönen Sache: das Buch in Händen zu halten, es endlich lesen zu können. Niemand störte mich, und alles, was ich hören konnte, war Vogelgezwitscher.
Und ich beschloss sofort, die Mixtur aus dem Buch zusammenzustellen und, falls möglich, selber in die Troposphäre zu gehen. Ich betrieb rasch einige Nachforschungen und fand heraus, dass ich etwas Carbo veg von der richtigen Potenz in einem Geschäft in Brighton kaufen konnte. Ich fuhr am selben Nachmittag hin und holte mir auf dem Rückweg etwas Weihwasser aus St. Thomas und stattete in der Nacht der Troposphäre meinen ersten Besuch ab. An meine ersten paar Erfahrungen kann ich mich überwiegend nur verschwommen erinnern. Ich bin durch den Tunnel gekommen, der mir jetzt so vertraut ist, und traf in einer Stadt ein, die mir wie eine nostalgische Ansichtskartenversion von London im neunzehnten Jahrhundert erschien – voller dunkler Slums und
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