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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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habe ich mich schon zu sehr verändert? Wie wird das genannt, wenn Schmetterlinge aus ihrem Kokon rauskommen? Wie auch immer, es ist nicht das, was mit mir passiert ist. Ich wäre ein schrecklicher Schmetterling. Was ich auch war, bevor ich geschlüpft bin, das ist es: Ich bin geschlüpft, und jetzt bin ich etwas anderes. Und ich war ja ohnehin nicht das typische hochnäsige reiche Mädchen. Alle wissen von der »Schwanzlutschen auf dem Sofa«-Sache – sogar die Lehrer; allerdings kann es niemand beweisen. Okay, es ist ja in Wirklichkeit auch nichts passiert. Ich habe den Schwanz von dem Kerl gesehen, aber ich habe nicht dran gelutscht. Ich meine – igittigitt! Aber mir gefällt der Ruf, den ich jetzt habe, obwohl die meisten Mitschülerinnen deswegen immer noch nicht mit mir sprechen. Ich könnte Hugh erzählen, dass man mich von der Schule werfen will, weil ich so viel Sex habe. Das müsste ihn beeindrucken. Schließlich hat er es beim letzten Mal, als wir uns sahen, so hingestellt, dass wir uns nicht mehr sehen sollten, weil er so viel mehr Erfahrung hätte als ich. »Ich habe Sachen gesehen und getan, die dich wirklich schockieren würden, Babe.« Das hat er gesagt. Na und, Hugh? Ich hatte auch 'ne Menge Sex. Wir sind beide verletzt. Wir sind beide traurige, einsame Menschen, und deswegen sollten wir zusammen sein. Wie in dem Lied von Tom Waits, das du mir vorgespielt hast.
    Außerdem weiß ich, dass er eine tragische Vergangenheit gehabt hat und alles, aber das habe ich auch. Zum Beispiel, dass mein Dad starb, als ich neun war, und ich dann rausfand, dass mein wirklicher Dad jemand anders war – ein Kollege von Mum? Oder klingt das hoffnungslos nach Mittelschicht? Nicht direkt ein Fall fürs Sozialamt. Ich habe meinen Dad – meinen »wirklichen« Dad – seit über einem Jahr nicht gesehen. Niemand hat ihn seit über einem Jahr gesehen. Mehr Eyeliner. Aber mein Schulgeld wird auf rätselhafte Weise immer noch bezahlt. Deswegen kann ich nicht mal sagen, dass er tot ist. Mach ich vielleicht trotzdem. Ich könnte sagen, dass ich zwei Dads gehabt habe, die gestorben sind, und dass ich denke, dass ich verflucht bin. Das ist immer noch nicht so aufregend wie Alkoholismus oder Drogenhandel. Ich könnte sagen, dass mich meine Mutter verprügelt, aber das wäre eine Lüge. Sie hat mich nur einmal geschlagen, als ich sagte, ich wäre froh, dass Dad gestorben ist.
    Die Konsole war die ganze Zeit zu sehen, und ich habe beobachtet, wie die Bilder herumgeschwebt sind. Es sind fünf, aber ich weiß nicht, welches ich will. Ich schaue sie weiter an, während Molly weiter über Hugh nachdenkt. Dies ist wahrscheinlich das erste Mal, dass ich bei jemandem im Kopf bin und eine Beziehung spüre, die stärker ist als nur: Ich bin hier drin, und deswegen verstehe ich dich. Ich verstehe Molly auf einer sehr viel grundsätzlicheren Ebene. Aber ich kann nicht bei Molly bleiben; ich muss rauskriegen, wohin ich als Nächstes springen soll.
    Hier sind die Möglichkeiten:
     
    – der Anblick eines Schreibtischs in einem Büro;
    – die Perspektive am Lenkrad eines Wagens, der auf einer schmalen Straße fährt;
    – der Anblick einer alten Frau, die etwas kaut;
    – ein alter Mann, der die Zeitung liest;
    – noch eine alte Frau, aber die hier hat pinkfarbene Strähnen im Haar.
     
    Ich weiß, dass ich überall landen könnte, wenn ich in eins dieser Bilder springe. Ich muss bei Saul Burlem landen, weil ich einfach nicht weiß, wie ich hierher zurückkomme, falls ich mich vorher verirre. Ich sehe mir die Bilder noch einmal an. Auf dem Schreibtisch liegt ein Kuscheltier. Die Hände am Lenkrad des Wagens sind die einer Frau mit fluoreszierendem pinkfarbenen Nagellack. Das sind keine Männer. Jetzt habe ich noch drei ältere Leute zur Verfügung. Sind dies die Perspektiven von Großeltern: Bilder anderer Großeltern oder Bekannter von Großeltern? Wo ist Saul Burlem? Wo ist seine Perspektive? Ich mustere noch einmal die Bilder. Ich kann mich für keines entscheiden. Keines kommt mir richtig vor. Vielleicht ist er tot. Aber mein Bewusstsein scheint sich auf der Frau mit den pinkfarbenen Strähnen ausruhen zu wollen. Tatsächlich schaue ich es mir gerade an und denke, dass es ungewöhnlich sei, als mein Bewusstsein, das diesen Gedanken eindeutig in »interessant« übersetzt, einen Sprung in diesen Kopf macht. Zum Teufel. Ich verschwimme … ich verlasse Molly. Im letzten Moment versuche ich, ihr einen Gedanken in den Kopf zu setzen: Vergiss

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