Troposphere
nichts Freudvolles gesehen, seitdem ich in diesem Lokal bin. Ich habe nichts Freudvolles gesehen, seit … Ich kann mich tatsächlich nicht erinnern, wann es das letzte Mal gewesen ist. Und das ist der Grund, weshalb ich Heidegger und Derrida und Baudrillard lese. In deren Welt ist das Leben keine Sache von Gut und Böse, von Glück und Traurigkeit, von Freude und dem Versagen, Freude zu erlangen. Versagen und Traurigkeit sind dazu da, untersucht zu werden, wie ein Rätsel, und jeder ist teilnahmeberechtigt. Es spielt keine Rolle, mit wie vielen Leuten du geschlafen hast oder ob du rauchst oder ob du darauf abfährst, deinem Körper Schaden zuzufügen. Du kannst dich an der Lösung des Rätsels versuchen, das von Unvollkommenheit ausgeht und dich niemals um etwas bittet.
Ich betrachte meine Handgelenke – die rosafarbenen, silbrigen Schürfwunden –, und dann sehe ich mich in dem Café um. Die meisten anderen Leute hier sind mittleren Alters und tragen Versandhauskleidung, die auf gepflegte Weise unmodisch ist. Sie machen mir ein bisschen Angst, nicht weil sie mir etwas antun könnten (diese Leute tun niemandem etwas an, sie sind gütig), sondern wegen dem, was sie über mich denken könnten. Dies sind nicht die Frauen mittleren Alters, an die ich mich aus der Siedlung erinnere, in der ich aufwuchs – Frauen, die schwatzten und rauchten und die Vorzüge besprachen, die es hat, Männern einen zu blasen, ohne vorher das Gebiss reinzutun. Sie sind auch nicht wie die Sozialarbeiterinnen, die dann und wann vorbeikamen, um zu kontrollieren, ob wir von den Männern dieser Frauen nicht sexuell missbraucht wurden (normalerweise waren es eher die Söhne). Nein. Diese Frauen sind wie die, an die ich mich aus der Bäckerei und dem Laden an der Ecke erinnere – die nicht aufhören, über deine verrückte Mutter zu reden, wenn du reinkommst, weil sie glauben, du wärst zu blöd, es zu verstehen. Sie sind die Schulsekretärinnen, die mir einfach hätten sagen können, dass ich meine Sachen häufiger waschen soll, anstatt hinter meinem Rücken darüber zu reden und schließlich dem Direktor Bescheid zu sagen. Sie gehören zu den Frauen, die nie vorteilhafte Kleidung – oder irgendwas Schwarzes – tragen würden, weil es in ihren Augen einer sexuellen Handlung gleichkommt, attraktiv auszusehen. In dem Café ist nur noch ein junger Mensch: ein schäbig gekleideter blonder Typ, der wie ein Religionslehrer aussieht, der mehr Zeit damit verbringt, über Weltreligionen als über das Christentum zu reden. Er schaut mich einen Moment lang an, und ich entdecke ein vertrautes Begehren in seinen Augen. Es ist kein romantisches Begehren, es geht um Sex, um reinen Sex, und es liegt daran, dass ich den Eindruck vermittle, ich wäre darauf aus. Verglichen mit allen anderen hier sehe ich aus wie eine Nutte. Aber darum geht es diesen Frauen natürlich. Indem sie das sind, was sie sind, machen sie einen schlechten Menschen aus dir, selbst wenn du nichts anderes tust, als Lippenstift zu benutzen. Ich versuche, ihm mit einem Blick zu antworten, der besagt: »Heute nicht, vielen Dank«, und nehme mir wieder die Broschüre und tue so, als läse ich sie, bis die Frau im gelben Twinset mit der Suppe kommt.
Als ich die Suppe gegessen habe, suche ich in meiner Reisetasche nach einem Notizbuch, damit ich eine Liste der Dinge machen kann, die ich in der Bibliothek nachsehen will. Ich nehme auch den Tabak heraus. Die Frau kommt, um den Suppenteller abzuräumen. Eine Selbstgedrehte liegt auf dem Tisch. Ich trinke den letzten Schluck Kaffee und halte ihr auch die leere Tasse hin.
»Sie dürfen hier drinnen nicht rauchen«, sagt sie.
»Oh, das weiß ich. Ich hatte es auch nicht vor, keine Sorge«, sage ich lächelnd.
»Ja dann, nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Wie sieht Ihr Gott aus?«, frage ich die Frau, bevor ich mir auf die Zunge beißen kann.
»Wie Gott aussieht?«, sagt sie.
Ich hätte die Frage nicht stellen sollen. »Ja«, sage ich.
»Er kümmert sich um die Menschen, die an ihn glauben«, sagt sie.
Und dann geht sie.
Als ich das Café verlasse, mir die Zigarette anzünde und mich zum Rauchen auf eine Mauer setze, denke ich an die verschiedenen Gelegenheiten in meinem Leben, als ich herauszufinden versuchte, was es mit der Religion auf sich hat. Es fängt oft mit einem logischen Schluss an; dass derart viele Menschen auf der Welt an einen Gott oder an eine bestimmte Art zu leben glauben, dass zumindest an einem dieser Ansätze etwas dran
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