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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Sie sind beide kreisförmig. Mein Herz fühlt sich an wie eine Maschine, die etwas hochtourig läuft. Ich habe jetzt die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Ich weiß fast, wo ich hinmuss. Ich muss nur noch einen Blick in ein anderes Buch werfen – eines mit neueren Fotografien –, damit ich sehe, dass eines der Schlösser inzwischen nur noch eine Ruine ist, wie ein übrig gebliebener Zahn im Mund eines Riesen.
    Aber das andere sieht genau so aus, wie Burlem es beschrieben hat, wie der Ring eines Riesen, den man auf einen Hügel geworfen hat. Und ich verstehe auch, was er mit der Abwesenheit meinte. Das Bild, das ich hier in diesem Buch vor mir habe, diese Luftaufnahme, erweckt eindeutig den Eindruck, als sei der Raum – das Ding, das nicht da ist – wichtiger als die Mauern, die da sind. Wenn man sich das Schloss lange genug ansieht, verschwimmen die Mauern, und es ist ganz so, als hätten sie überhaupt keinen Sinn, es sei denn, das ganze Nichts zu umschließen.
     

Kapitel dreiundzwanzig
     
    Um sechzehn Uhr stehe ich vor dem Haus in Burlems Erinnerung, dem, in dem er mit Lura zusammenwohnt (oder zumindest dem, in dem er im Dezember wohnte) und zu dem man kommt, wenn man das Käsegeschäft passiert und dann rechts abbiegt und die schmale Kopfsteinpflasterstraße hinaufgeht. Es ist ein ziemlich hohes, schmales Cottage aus grauen Steinen mit grünen Holzfensterläden. Es sieht gemütlich aus, aber es hat auch die Aura einer Festung. Vielleicht liegt das an den Fensterläden, vielleicht auch nur an meiner Paranoia. Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob ich überhaupt hier sein sollte, aber ich weiß ziemlich genau, dass mir niemand gefolgt ist. Nun ja, zumindest nicht in der physischen Welt. Mir fällt plötzlich ein, dass ich in eine Kirche hätte gehen sollen, für den Fall, dass sich einer der Typen vom Project Starlight (oder eines der toten KIDS) in meinem Kopf aufhält. Jetzt ist es allerdings zu spät. Vermutlich war es schon zu spät, als ich heute Morgen aufbrach. Falls sie die ganze Zeit über bei mir waren, wissen sie, wo ich hinwill. Aber andererseits brauchen sie dann auch nicht zu wissen, wo ich hinwill, sie hätten ihr Rezept schon.
    Aber ich glaube ohnehin nicht, dass sie hier sind. Ich glaube, ich bin allein.
    In Wirklichkeit weiß ich, dass ich allein bin. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so allein gewesen. Ich zögere, bevor ich den schweren Türklopfer aus Messing anhebe. Meine Augen füllen sich mit Tränen, aber ich will nicht aufgelöst wirken, wenn jemand die Tür aufmacht. Wann habe ich zum letzten Mal geweint? Ich habe nicht geweint, nachdem Patrick mich in der Universität oder auf der Tankstellentoilette getickt hatte; ich habe nicht geweint, als meine Eltern mich endgültig im Stich ließen; ich habe nicht mal geweint, als ich Adam im Priorat zurückließ, Adam, der mich jetzt vermutlich hasst und den ich vermutlich nie wiedersehen werde. Aber jetzt, während ich hier in der Dämmerung stehe, in der Kälte, während Möwen über mir kreischen und Sterne bereits den Himmel zu durchstechen beginnen, ist mir mehr denn je nach Weinen. Ich kämpfe mit den Tränen. Wenn das hier nicht klappt, bin ich total am Arsch. Ich habe kein Zuhause. Ich habe kein Geld. Ich habe keine Familie.
    Ich hebe den Türklopfer und schlage zweimal gegen die Tür.
    Bitte , sei da. Bitte, sei da. Bitte, sei da.
    Ich sehe Rauch aus dem Schornstein steigen: Jemand ist da.
    Nach ungefähr zwei Minuten macht eine Frau die Tür auf. Es ist Lura. Ich erkenne alles an ihr, von den fließenden Gewändern bis zu den grauen schulterlangen Haaren mit pinkfarbenen Strähnen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich mir nicht zurechtgelegt habe, wie ich weiter vorgehen soll. Ich weiß, wie es ist, mit dieser Frau Geschlechtsverkehr zu haben, sie zu belügen, mit ihr zu leben. Aber ich sollte wahrscheinlich so tun, als würde ich sie überhaupt nicht kennen. Solange ich daran denke, dass ich ich bin, stimmt das ja auch.
    Sie sagt kein Wort.
    »Hallo«, sage ich. »Ich wüsste gern, ob …«
    »Pardon?«, unterbricht mich Lura. »Wer sind Sie?« Sie klingt kultiviert, sie spricht leise, und nur eine Spur eines deutschen Akzents ist zu hören.
    »Es tut mir leid, Sie zu belästigen, aber …«
    »Ja?« Sie ist ungeduldig. Vielleicht mag sie es nicht, wenn jemand vor ihr rumlabert, ihre Zeit vergeudet. Aber ich weiß auch nicht so recht, ob ihr gefallen wird, was ich zu sagen habe. Obwohl sie keine Wahl hat. Sie hat

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