Troposphere
sein muss. Wenn ich dann zur nächsten öffentlichen Bibliothek oder in die Universitätsbibliothek gehe, kommt immer der Moment – vielleicht so ähnlich wie der Moment in der Bäckerei, bevor man sich für ein Brot entscheidet –, in dem man vor so vielen Möglichkeiten steht. So viele Bücher – so viel »Wahrheit«. Das kann doch bestimmt nicht alles falsch sein. Das kann doch bestimmt nicht alles das Gleiche sein. Aber in meinen Augen sehen sie alle gleich aus. Sie haben alle die gleichen Hierarchien. Sie haben alle Führer. Sogar der Buddhismus hat Regeln zum Thema, wer wirklich »dazugehören« kann und wer nicht, wer etwas zu sagen hat und wer nicht. Und die Führer sind alle Männer.
Ich erinnere mich, einmal mit dem römisch-katholischen Glauben geliebäugelt zu haben, als ich mit einem Typ zusammen war, der als Kind Chorknabe gewesen war und der aus der ganzen Sache irgendwie Nutzen zu schlagen schien (und es sich prima zurechtgelegt hatte, wie man ein Katholik sein und trotzdem schmutzigen Sex haben konnte). Ich besorgte mir ein paar Bücher und Zeitschriften aus der nächsten Kirche und begann, mich darüber zu informieren. Ich hatte den ganzen Kram über die Jungfrau Maria irgendwie akzeptiert und war dabei, mich davon zu überzeugen, dass eine Religion, die eine Frau derart ernst nahm, doch etwas für sich haben musste. Dann las ich in einer der Zeitschriften eine lustige Anekdote, bei der es darum ging, dass Papst Johannes Paul II. eine Stadt besuchte und die Nonnen, die für ihn kochen sollten, es irgendwie vermasselten und ihm schließlich Fischstäbchen kredenzten. Offenbar lief die Geschichte darauf hinaus, dass der Papst lustigerweise Fischstäbchen essen musste, aber ich kam nicht über das Detail hinweg, dass der Papst Nonnen hatte, die für ihn kochten. Religionsführer sollten doch mit Sicherheit klüger sein als wir anderen, oder? Aber dann begriff ich, dass an diesem System überhaupt nichts Besonderes war, nichts, das es profunder oder außergewöhnlicher macht als die restliche Gesellschaft. Wenn jemand, der sein ganzes Leben dem Nachdenken über das Gute, das Richtige und das Wahre verschrieben hatte, immer noch erwartete, dass Nonnen Fischstäbchen für ihn zubereiteten (da Nonnen schließlich nichts Besseres zu tun haben und sowieso keine von ihnen jemals Priester oder Papst werden wird, weil Frauen ja dafür nicht gut genug sind), dann stimmte damit etwas ganz und gar nicht. Wie konnte er die Bibelstelle übersehen haben, dass in den Augen Gottes alle gleich sind? Wenn das der klügste Katholik war, dann wollte ich mit Sicherheit nicht den dümmsten kennenlernen.
Vielleicht ist das mit dem anthropischen Prinzip vergleichbar, aber ich bin eine Frau, und nachdem ich ein Leben lang damit experimentiert habe, weiß ich, dass ich all dessen fähig bin, was Männer tun, abgesehen von Dingen, die ausdrücklich einen Penis erfordern (beispielsweise im Stehen pissen). Ich meine, es ist so offensichtlich, dass es ein bisschen albern klingt, das zu wiederholen, als würde man sagen: »Alle Menschen haben Köpfe.« Was weiß die Religion also über mich, das ich übersehe? Bin ich in einem apriorischen Sinn weniger wert? Aber das wäre vollkommener Blödsinn. Wie ist es möglich, dass die Religion, die behauptet, tiefgründiger zu sein als alles andere, immer noch weniger vom Menschsein begreift als jede Personalabteilung des Landes?
Es ist allerdings nicht nur das Christentum. Wie konnten die Buddhisten die Stelle in ihrer Überlieferung übersehen, wo es um die Freiheit vom Verlangen geht, wenn doch die meisten von ihnen danach zu verlangen scheinen, als gut wiedergeboren zu werden, und das auf eine Weise, dass sie ein Mann sein und »ehrwürdiger Meister« genannt werden und anderen Leuten sagen können, was sie tun sollen? Warum ist die Religion so enttäuschend? Man erwartet von ihr, dass sie einem etwas sagt, was man nicht weiß, und alles, was sie einem schließlich sagt, ist das Zeug, das man seit Jahren kennt und das man längst zu verwerfen beschlossen hat.
Zu meiner Linken ist die große graue Kirchmauer.
Sind wir die Gedanken Gottes?, fragt ein Plakat.
Nein, begreife ich. Es ist umgekehrt.
Ich drücke meine Zigarette aus und höre auf nachzudenken.
Die Bibliothek ist ein großer quadratischer Raum mit zwei Ebenen. In der Mitte des Erdgeschosses ist ein Leihschalter, ringsum sind lauter Bücherregale. Der erste Stock ist im Wesentlichen nur eine Galerie mit einem großen
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