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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Bevor er geht, wirft er mir einen Blick zu, es ist als stünden seine Augen unter Strom, und sagt: »Du hast da irgendwas, oder? Etwas, das du für verflucht hältst.«
    »Ich weiß nicht«, erwidere ich. »Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich fühle ich mich nach dem heutigen Tag nur ein bisschen komisch, mit dem Einsturz der Universität und dieser Kälte und diesen Unmengen an Sliwowitz und …«
    »Zeig's mir, wann immer du willst«, sagt er. »Mein Leben kann nicht mehr schlimmer werden. Mach dir keine Gedanken darüber, wie du mich beschützen könntest.«
    »Vielen Dank«, sage ich. Aber … Scheiße. Was ist nur los mit mir? Wolf zu beschützen war das Letzte, woran ich gedacht hatte. Ich wollte nur das Buch für mich behalten und, wenn ich ehrlich bin, vermeiden, dass er es mir klauen könnte. Während ich mich mit trockenem Mund ins Bett lege, »The End of Mister Y« unter meinem anderen, leeren Kissen, frage ich mich, ob Flüche nicht eventuell doch existieren.
     

Kapitel vier
     
    Manchmal wache ich mit einem so ungeheuren Gefühl von Enttäuschung auf, dass ich kaum atmen kann. Normalerweise wird es durch nichts Bestimmtes ausgelöst, und ich schiebe es auf die Verschränkung einer unglücklichen Kindheit mit schlechten Träumen (zwei Dinge, die ganz gut zueinanderpassen). Und in den meisten Fällen kann ich dieses Gefühl ziemlich rasch abschütteln. Schließlich gibt es nicht viel, worüber ich enttäuscht sein könnte. Ich habe also keinen der Jobs in der Verlagsbranche bekommen, um die ich mich nach der Uni bemüht habe. Und wennschon. Das war vor zehn Jahren, und ich bin ohnehin glücklich und zufrieden mit meiner Zeitschriftenkolumne. Es macht mir wirklich nichts aus, dass meine Mutter sich mit einem Haufen Freaks aus dem Staub gemacht hat, mein Vater in einem Heim im Norden lebt und meine Schwester mir nicht einmal mehr Weihnachtskarten schickt. Es macht mir nichts aus, dass meine ehemaligen Mitbewohner alle geheiratet und mich allein zurückgelassen haben. Ich lebe gern allein – ich konnte es mir nur in dem großen Haus in Hackney nicht mehr leisten, in dem plötzlich alle Zimmer leer standen. Indem ich hierherkam, konnte ich einfach damit weitermachen, allein zu leben und meine Bücher zu lesen, also ist es wohl kaum so, dass ich irgendeinen Grund hätte, traurig oder enttäuscht zu sein.
    Manchmal gefällt mir der Gedanke, mit Geistern zusammenzuleben. Nicht solche aus meiner eigenen Vergangenheit – an diese Art Geister glaube ich nicht –, sondern zarte Ideenflöckchen und Buchgespinste, die wie Seidenpuppen in der Luft hängen. Manchmal sehe ich auch meine eigenen Ideen herumschweben, aber normalerweise halten sie sich nicht lange. Sie sind eher wie Eintagsfliegen: Sie werden groß und glänzend geboren, und dann summen sie wie verrückt herum, bevor sie ungefähr vierundzwanzig Stunden später einfach tot auf den Boden fallen. Ich bin mir sowieso nicht sicher, ob ich je einen originellen Gedanken hatte, deshalb ist mir das egal. Nach meinem Dafürhalten hat Derrida ohnehin schon alles bedacht. Das mag sich jetzt großkotzig anhören – aber im Grunde ist Derrida gar nicht so schwierig, er schreibt nur kompliziert. Und inzwischen ist auch er ein Geist. Oder vielleicht war er das schon immer – ich bin ihm nie begegnet, woher soll ich also wissen, ob er wirklich existiert hat? Einige der freundlichsten Geister, mit denen ich lebe, sind die meiner Lieblingsnaturwissenschaftler aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die meisten von ihnen hatten natürlich unrecht, aber wen kümmert das schon? Es ist ja nicht so, als wäre das das Ende der Geschichte. Wir haben alle unrecht.
    Manchmal versuche ich mich an einem eigenen Gedankenexperiment, das geht dann folgendermaßen: Was wäre, wenn tatsächlich jeder recht hätte? Aristoteles und Plato, David und Goliath, Hobbes und Locke, Hitler und Gandhi, Tom und Jerry. Könnte das jemals einen Sinn ergeben? Und dann denke ich an meine Mutter und finde, nein, nicht jeder hat recht. Um den Physiker Wolfgang Pauli zu paraphrasieren: Sie hatte noch nicht mal unrecht. Vielleicht ist das der Punkt, an dem die menschliche Gesellschaft jetzt steht, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Sie hat noch nicht einmal unrecht. Die Leute im neunzehnten Jahrhundert hatten unrecht, im Großen und Ganzen, aber wir stellen uns irgendwie noch schlimmer an. Heute leben wir mit der Unschärferelation und mit dem Unvollständigkeitstheorem und mit Philosophen, die

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