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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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herrliche Illusion, die wir Erinnerung nennen, jener Vorhang des Schicksals, der straff über den bewussten Geist gespannt, aber in jeder Faser des Seins gegenwärtig ist, vom Meeresgeschöpf bis zum Menschen, vom Kieselstein bis zum Ozean, wie Lamarck und E. Darwin es behauptet haben. Kann dieser Ort wirklich sein? Vielleicht nicht. Dies ist der Grund, warum ich wünsche, dass dieses Werk nur als eines der Dichtung betrachtet werde.
     
    T. E. Lumas, im Juli 1892
     
    • Prolog •
     
    Ich sehe vor mir eine Küste;
    Ein Fischerboot auf einer Welle;
    Nicht eine Fußspur auf der Wüste,
    Und jenseits – eine fremde Hölle.
     
    Ich bin in einem Wald von Buchen,
    Ein dunkles Ross, das soll mich tragen,
    Wohin es will, danach zu suchen,
    Was auf mich wartet – lauter Fragen!
     
    Ich wand're in dem Feld am Morgen
    Auf grünem Teppich mit Mohnflecken:
    Wie die Gedanken auch verborgen,
    Kann keines Schläfers Aug entdecken.
     
    An jedem Ort, wohin ich flieh,
    Das Dunkel sich vorm Licht verzieh.
     
    Ich beende meine Lektüre des Vorworts ungefähr um neun Uhr. Ich wünsche, dass dieses Werk nur als eines der Dichtung betrachtet werde. So endet das Vorwort. Was soll das? Jeder Mensch würde einen Roman doch ohnehin als ein Werk der Dichtung lesen, oder nicht?
    Zu Beginn der eigentlichen Geschichte wird ein Geschäftsmann eingeführt, Mr. Y, der einen Rummelplatz im Regen besucht. Ich lese jedoch nicht gründlich. Stattdessen überfliege ich die ersten beiden Kapitel, lese nur hier und da irgendeinen Satz. Der erste des ersten Kapitels gefällt mir: Am Ende würde ich niemand sein, aber am Anfang war ich als Mr. Y bekannt. Ich blättere weiter durch das Buch, bis zum Ende (das ich natürlich nicht lese). Das tue ich vor allem einfach deshalb, weil ich die Seiten gerne anfasse. Dann kehre ich zum ersten Kapitel zurück. Während ich nach vorne zurückblättere, fallt es mir auf. In dem Buch fehlt ein Blatt. Zwischen der linken Seite 130 und der rechten 133 gibt es nur eine abgerissene Papierkante. Die Seiten 131 und 132, zwei Seiten eines Folioblatts, sind verschwunden.
    Zunächst kann ich es nicht ganz glauben. Wer würde einfach so eine Seite aus »The End of Mister Y« herausreißen? Ich überprüfe sorgfältig den Rest des Buchs. Es fehlen keine weiteren Seiten, und es gibt auch kein Anzeichen dafür, dass jemand das Buch aus bloßem Vandalismus heraus beschädigen wollte. Warum also eine Seite herausreißen? Ging jemandem genau diese Seite gegen den Strich? Oder hat sie jemand gestohlen? Aber warum dann nicht gleich das ganze Buch stehlen? Das alles ist ziemlich verwirrend. Ich fange zu zittern an und wünsche, es würde hier drinnen endlich wärmer werden.
    Unten höre ich das Knarzen der Haustür, das darauf schließen lässt, dass Wolfgang nach Hause kommt. Ein paar Sekunden später klopft es leise an meiner Tür.
    »Es ist offen«, rufe ich und lege »The End of Mister Y« beiseite.
    Wolfgang ist klein und blond und kommt aus Ostberlin. Ich glaube, er wäscht sich nie die Haare. Heute trägt er die Sachen, die er immer trägt, wenn er in dem Hotel spielt: verwaschene Jeans, weißes Hemd und ein dunkelblaues Jackett. Als ich Wolfgang zum ersten Mal sah, an dem Tag, als ich in diese Wohnung einzog, erzählte er mir, er wäre derart deprimiert, dass er nicht mal die Energie aufbrächte, sich umzubringen. Ich machte mir Sorgen um ihn und begann, kleine Dinge zu tun, die ihm das Leben ein bisschen erleichterten, machte ihm beispielsweise Suppe oder bot an, ihm Bücher aus der Universitätsbibliothek mitzubringen. Lange Zeit sagte er ja zur Suppe und nein zu den Büchern, aber seit kurzem fragt er mich nach Gedichten: vor allem Ginsberg und Bukowski.
    Als Wolfgang reinkommt, muss ich an Lumas' Worte denken: des Lebens wie der Träume. Soll ich Wolfgang von dem Buch erzählen? Vielleicht später.
    Er grinst mich traurig an. »Ach ja. In einem Universum bin ich reich. Machst du mir gebackene Kartoffeln?«
    Der Satz mit dem Reichtum in einem Universum bezieht sich auf etwas, was ich ihm erzählt habe. Der russische Physiker George Gamow hat diesen Satz gesagt, nachdem er sein ganzes Geld in einem amerikanischen Casino verloren hatte. Offenbar hat Wolfgang, wie gewöhnlich, sein Trinkgeld im Casino des Hotels verspielt. Aber in einem Paralleluniversum hat eine andere Version von ihm vielleicht Tausende Pfund gewonnen.
    »Mmm«, erwidere ich. »Kartoffeln mit …« Ich sehe mich in der Küche um. »Olivenöl, Salz. Ähm

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