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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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behaupten, dass die Welt ein Simulakrum geworden sei – eine Kopie ohne Original. Wir leben in einer Welt, in der womöglich nichts wirklich ist, einer Welt mit unendlich vielen geschlossenen Systemen und mit Partikeln, die alles tun könnten, was man will (es aber wahrscheinlich nicht tun).
    Vielleicht sind wir alle wie meine Mutter. Ich denke nicht allzu gerne an sie oder meine Kindheit zurück, aber man kann es recht knapp zusammenfassen. Wir lebten in einer Siedlung von Sozialwohnungen, wo das Lesen von Büchern als eine ziemlich anstößige Kombination aus Faulheit und Anmaßung galt, und wo nur meine Mutter und ich – soweit ich das mitbekam – im Besitz eines Bibliotheksausweises waren. Während die anderen Kinder Geschlechtsverkehr hatten (ungefähr von ihrem achten Lebensjahr an) und die anderen Erwachsenen soffen, ihr Geld verspielten, Kampfhunde und räudige Katzen züchteten und sich überlegten, wie sie reich und berühmt werden könnten, nahm meine Mutter mich gelegentlich mit in die Bibliothek und setzte mich in der Kinderabteilung ab, während sie den Sinn des Lebens mit Hilfe von Büchern über Astrologie, Gesundbeten und Telepathie zu ergründen versuchte. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich nicht mal erfahren, dass es so etwas wie eine Bibliothek gab. Das ist das einzig Gute, was sie je für mich getan hat. Abends saß sie unten in ihrem pinkfarbenen Bademantel und wartete auf Außerirdische, während mein Vater mich in den Park mitnahm und dabei fotografierte, wie ich Aluminiumbänke umstieß und Graffiti auf die Wände des U-Bahnhofs sprühte. Diese Bilder schickte er dann an die Lokalzeitung – als eindrücklichen Beweis dafür, dass die Kommune den Krieg gegen jugendliche Rowdys verlor. Mein Vater, der stets dann in Höchstform war, wenn er zu annähernd fünfzig Prozent nüchtern war, und der mir Spielzeugautos und Fußballaufkleber kaufte, glaubte, alles sei eine Staatsverschwörung. Meine Mutter hingegen glaubte, dass die Verschwörung noch höheren Orts ihren Ursprung hatte. Meine Eltern brachten mir bei, dass alles, was andere einem erzählen, eine Lüge sei. Aber dann stellte sich heraus, dass auch sie logen.
    Es ist nicht so, dass es mir keinen Spaß gemacht hatte, mit den andern Kindern rumzuhängen, auf der Hauptstraße Mutproben zu bestehen, die Fahrräder reicher Kinder zu klauen oder Sachen in Brand zu stecken. Auch mich von den älteren Jungs für zehn Pence pro Durchgang befummeln zu lassen, war okay. Ich bin sogar ziemlich reich dabei geworden und konnte mir schließlich ein Fahrrad kaufen, das nicht zurückgegeben oder in den Fluss geworfen werden musste. Danach gab ich den Sex auf und fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Bibliothek. Damals habe ich mir angewöhnt, Leseexzesse zu veranstalten. Das geht so: Man muss jeden Tag Stunden damit verbringen, von mehr Büchern umgeben zu sein, als man je lesen könnte. Dann fängt man mit einem an, wird aber von der Vorstellung abgelenkt, dass man genauso gut mit einem anderen hätte anfangen können. Am Ende des Tages hat man zwei überflogen und vier angefangen und den Schluss von ungefähr sieben gelesen. Man kann sich auf diese Weise durch eine ganze Bibliothek arbeiten, ohne je eins der Bücher richtig zu Ende gelesen zu haben. Ein paar Romane habe ich allerdings zu Ende gelesen. Aber ich war keines der Kinder, die Tolstoi lasen. Ich las die Sorte Erwachsenenbücher, die man als Kind eigentlich nicht ausleihen durfte.
    Auf dem Gymnasium begann ich, den Lehrern mit meiner gebrauchten Schuluniform und meinen komischen Haaren leidzutun. Aber da ich nicht an der Morgenandacht teilnehmen durfte (vielen Dank, Mum; vielen Dank, Dad) und nie etwas glaubte, was man mir beizubringen versuchte, galt ich schnell als eines der »schwierigen« Kinder. Außerdem musste ich mich seit meinem dreizehnten Lebensjahr selbst um meine Wäsche kümmern, und normalerweise gab ich mir keine große Mühe. Den anderen Kindern war egal, dass meine Kragen schmuddelig waren oder mein zu kurzer Rock seit Wochen kein Bügeleisen mehr gesehen hatte. Aber die Lehrer nahmen mich von Zeit zu Zeit beiseite und sagten Dinge wie: »Vielleicht könntest du deiner Mutter gegenüber erwähnen, dass deine Schuluniform mal …« Meiner Mutter gegenüber? Theoretisch konnte man sich mit ihr verständigen, aber nur, wenn man CB-Funk hatte und ein überzeugender Alien-Imitator war.
    Also tat ich, was zu erwarten war: Ich lief von zu Hause weg, um an die Uni

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