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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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bewegten sich nicht ruckartig wie Marionetten. Sie schienen in der Tat über die Bühne zu schweben, ohne dass ihre Füße je die Bretter unter ihnen berührten. Dann trat ziemlich unvermittelt ein kräftiger Schauspieler auf und durchbohrte eines der Phantome ohne sichtbaren Widerstand oder Blutvergießen mit einem Degen. Ich gebe zu, dass ich zusammen mit den anderen Zuschauern einen Entsetzenslaut ausstieß, als der Degen den schwächlichen und bemitleidenswerten Leib des Geistes durchstieß. In diesem Moment muss mich meine Vernunft im Stich gelassen haben. Ich muss gestehen, dass ich nach Beendigung der Vorstellung noch ein wenig in der Hoffnung herumtrödelte, etwas über den Aufbau dieses ausgeklügelten Schwindels in Erfahrung zu bringen. Damals glaubte ich nicht an Geister, und ich hatte keinen Zweifel daran, dass es eine naturwissenschaftliche und durchaus vernünftige Erklärung für diese phantasmagorische Aufführung gab. Doch zu meiner großen Enttäuschung wollte es mir nicht gelingen, mir diese Methodik selbst zu erschließen.
    Nach kurzer Zeit blieb ich mit einem Mann von schmaler Statur allein in dem Zelt zurück. Er kam langsam zu mir herüber und zeigte auf die Bühne.
    »Es ist sicherlich ein eindrucksvolles Schauspiel«, sagte er.
    »Das ist es in der Tat«, pflichtete ich ihm bei.
    »Und ich vermute, dass Sie eine Erklärung dafür zu finden suchen.«
    »Ja«, sagte ich.
    Der Mann schwieg einen Moment, als sei er mit Kopfrechnen beschäftigt.
    »Für zwei Shilling werde ich es Ihnen zeigen.«
    Bevor ich auch nur gegen den Preis protestieren konnte, folgte ich dem Mann schon zur Bühne. Zunächst glaubte ich, er wolle mir den Mechanismus der Illusion zeigen und sie auf diese Weise erklären: durch eine einfache Demonstration. Stattdessen führte er mich durch eine Klappe in dem Zelt in eine kleinere Segeltuchkonstruktion, in der ein Arzneikästchen neben einer großen, unglaublich geschmacklosen Lampe auf einem kleinen Tisch stand. Der Keramikfuß der Lampe schien die tiefen Rottöne einer alten Wunde miteinander zu verbinden, und auf diesen Fuß waren ekelhaft gelbe Blumen gemalt, von denen ich mir sicher war, dass die Natur sie so nicht hervorbrächte. Vom Rand ihres ebenfalls keramischen Schirms baumelten mehrere Glasperlen, die offenbar das Licht in der Art eines Kronleuchters brechen sollten, tatsächlich aber nur eine unheimliche Spritzarbeit von Schatten auf der Rückwand des Zelts zu erzeugen vermochten. Hinter dem Tisch befand sich eine Steinplatte, die aussah wie der Deckel eines Sarkophags, die aber vermutlich eine Art Bett vorstellen sollte.
    »Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden«, sagte ich.
    »Sie können mich als den Jahrmarktsarzt betrachten«, sagte er. »Und wie heißen Sie?«
    Sein Auftreten hielt mich davon ab, mich auf angemessene Weise vorzustellen, und daher schlug ich vor, dass er mich einfach als Mr. Y anreden solle.
    Plötzlich überkam mich das eigentümliche Gefühl, dass alle anderen nach Hause gegangen waren und ich der einzige Mensch war, der sich noch auf dem Jahrmarkt aufhielt. Ich hörte zwar den Regen auf das Zeltdach hämmern, bildete mir aber ein, nichts weiter von draußen hören zu können: keine Stimmen, kein Gelächter. Selbst das infernalische Dröhnen des Harmoniums wäre mir willkommen gewesen. Mir war auf einmal mulmig zumute, und ich traute diesem Arzt nicht. Doch als er mir durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass ich mich auf die Steinplatte setzen solle, tat ich wie verlangt.
    »Sie würden gern das Wesen der Illusion erkennen, der Sie gerade beigewohnt haben«, sagte er. »Ich kann es Ihnen zeigen, und noch mehr. Aber …« Hier stockte er. »Vielleicht haben Sie nicht die Konstitution für die Erleuchtung, die ich im Begriff stehe, Ihnen anzubieten. Vielleicht …«
    »Ich habe zwei Shilling«, sagte ich knapp und hielt ihm das Geld hin. »Jetzt tun Sie schon, was Sie angekündigt haben.«
    Der Arzt öffnete seine Hausapotheke und entnahm ihr ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit. Aus diesem Fläschchen goss er eine kleine Menge in ein Glas, das er mir dann reichte. Mit der anderen Hand bedeutete er mir zu warten. Dann nahm er einen weiteren Gegenstand aus dem Arzneischränkchen: eine weiße Karte mit einem kleinen, schwarz ausgefüllten Kreis in der Mitte. Er wies mich an, die Flüssigkeit zu schlucken und mich auf die Platte zu legen, wobei ich die Karte über mein Gesicht halten und mich so stark auf den schwarzen Punkt

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