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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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ich mich und machte mich auf die Suche nach dem Klo. Ich war betrunken und verlief mich ein bisschen, aber ich war nicht lange weg. Ich erinnere mich jedoch an einen erstaunlichen Korridor. Es war ein getünchter Raum mit niedriger Decke, der sich anfühlte wie das Innere eines antiken Teleskops: glatt und kalt. Ich muss ihn drei- oder viermal auf und ab gelaufen sein, wobei ich wünschte, ich hätte einen Fotoapparat oder ein besseres Gedächtnis. Als ich zurück in die Upper Hall kam, war Burlem verschwunden.
     
    Um halb fünf hatte ich ein Bad genommen, mich wieder angezogen – diesmal mit einem Ziel vor Augen – und eine kurze Nahrungsmittelinventur vorgenommen, keine sehr inspirierende Liste. Daraus geht hervor, dass ich über den Daumen gepeilt eine Woche auskomme, wenn ich mich mit Haferbrei sowie Suppe und Nudeln aus der Dose zufriedengebe. Lassen sich demnach fünf Pfund so lange strecken, dass sie die verbleibenden zwei Wochen abdecken? Ich könnte eine große Flasche Sojasoße für etwa fünfzig Pence auf dem Markt und, sagen wir, vierzehn Tüten mit Nudeln für zwanzig Pence pro Stück kaufen, die ganz knapp das Haltbarkeitsdatum überschritten haben. Dann hätte ich noch ein bisschen Kleingeld übrig, um mir eine große Tafel Bitterschokolade zu kaufen. Aber was ist mit Zigaretten und Benzin? Was ist mit Kaffee? Ich kann keinen schlechten Kaffee trinken, aber guten kann ich mir definitiv nicht leisten. Ich könnte wohl so lange Leitungswasser und Sliwowitz trinken. Und was ist mit Gemüse? Wie lange würde es dauern, bis ich Skorbut bekäme? Die Vorstellung, gleichzeitig an Skorbut, an Nikotin- und an Koffein-Entzugserscheinungen zu leiden, macht mich nicht sonderlich glücklich. Ist das Buch das alles wirklich wert? Wahrscheinlich schon. Jedenfalls würde ich mich wieder so entscheiden.
    »Mr. Y«, denke ich lächelnd. »Mr. Y.«
    Eine Maus rennt quer über den Küchenfußboden, und ich ziehe instinktiv die Beine hoch und schlinge die Arme um die Knie. Ich habe so wenig über »The End of Mister Y« gelesen. Alles, was ich wirklich darüber weiß, ist die Sache mit dem Fluch. Es ist eine eigenartige Erfahrung, auf so ein altes Buch zu stoßen, ohne vorher in den Genuss von tausend Fernsehverfilmungen sowie verschiedensten Lernmaterialien und diversen Lesezirkeln gekommen zu sein. Worum geht es? Für welches von Lumas' Gedankenexperimenten steht es? Und was soll dieser Hinweis auf die Belletristik? Ich wünsche, dass dieses Werk nur als eines der Dichtung betrachtet werde. Ich nehme an, ich werde das Buch zu Ende lesen müssen, um herauszufinden, was das heißen soll.
    Andererseits ist das mit der Dichtung schon jetzt etwas uneindeutig. Bin ich Mr. Y? Muss ich es sein, damit das Buch auch funktioniert? Als ich klein war, habe ich mit mir selbst immer vereinbart, mich nie mit den Hauptfiguren zu identifizieren, weil ihnen oft schlimme oder – noch beunruhigender – große Dinge widerfuhren und ich mit dem Gefühl nicht klarkam, dass diese Sachen auch mir widerfuhren, also dem Teil der Persönlichkeit, den man in die Dichtung projiziert, wenn man liest. Deswegen entschied ich mich stets für eine Nebenfigur, die ich für die Dauer des Buchs »sein« würde. Manchmal starb ich, manchmal stellte ich mich als böse heraus. Aber ich musste nie im Mittelpunkt stehen. Mittlerweile bin ich älter und lese konventioneller. Genau in diesem Augenblick habe ich Angst um Mr. Y/mich, und ich habe den Eindruck, dass es draußen regnen müsste, obwohl es das nicht tut. Wie wird sich sein/mein/unser Leben nach Einnahme dieses Tranks ändern? Mir fällt die fehlende Seite ein, und plötzlich ist sie bedeutsam, jetzt, da ich in die Geschichte verwickelt bin. Ich hoffe, ich kann herausfinden, welcher Teil fehlt. Und ich hoffe, dass Mr. Ys Ende nicht zu schmerzhaft ist, obwohl ich Schlimmes befürchte. Lumas' Romane und Erzählungen haben nie ein Happy End.
    Ich verlasse das Haus gegen zwanzig vor fünf und gehe zunächst auf der Castle Street in Richtung Kathedrale. In dieser Stadt kann man die Kathedrale fast von jedem Punkt aus sehen. Als ich hier neu war, habe ich mich immer an ihr orientiert. Die Sonne ist fast ganz untergegangen, und der Himmel hinter den blassgoldenen Turmspitzen ist mit einer kalten, wachsartigen Pinkfärbung verschmiert. Wie an jedem Samstagnachmittag im Winter passiere ich Läden, in deren Schaufenstern die Fußballergebnisse ausgehängt, und junge Akademiker, die unterwegs sind, eine Zeitung

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