Troposphere
konzentrieren sollte, wie ich nur konnte. Während ich tat, was er von mir verlangte, fragte ich mich, welcher Art von Gaunerei ich mich hier unterwarf. Ich vermutete, es handele sich um Mesmerismus der gröbsten Sorte. Keine Sekunde lang glaubte ich, dass die Mixtur irgendeine Wirkung haben würde, noch ahnte ich, dass, nachdem ich sie getrunken hatte, mein Leben hinfort einen andern Gang nehmen würde.
Um elf Uhr habe ich das erste Kapitel von »The End of Mister Y« zu Ende gelesen. Die Wintersonne lugt schüchtern durch die dünnen Vorhänge, und ich beschließe aufzustehen. Es ist eiskalt. Ich hebe meine Jeans vom Boden auf und schlüpfe schnell hinein. Anschließend ziehe ich irgendeinen herumliegenden Pullover an. Während ich die Betontreppe hinabtrotte, um meine Post zu holen, habe ich auf einmal das Gefühl, ich hätte etwas vergessen. Habe ich mich mal wieder ausgesperrt? Nein, das ist es nicht. Den Schlüsselbund habe ich in der Hand. Ich sehe die Postwurfsendungen für Essenbringdienste und die Taxi-Karten herumliegen und gehe wieder nach oben, ohne irgendwas davon aufzuheben. Was könnte ich vergessen haben?
Haferbrei. Kaffee. Ein ganzer Tag Lektüre liegt vor mir. Das Leben könnte schlimmer sein. Ich habe auch schon das schläfrige Gefühl, das sich immer einstellt, wenn ich ein gutes Buch lese: als wollte ich es mir im Bett gemütlich machen und die nicht erfundene Welt vergessen. Irgendwann bald werde ich mir noch überlegen müssen, wie ich die nächsten drei Wochen mit nur fünf Pfund überleben soll, aber das könnte sogar Spaß machen. Sobald ich mein Frühstück beendet habe, grabe ich die Packung Ginseng-Zigaretten aus der Tasche und stecke mir eine an. Ich bin tatsächlich ziemlich entspannt, als das Summgeräusch in meiner Handtasche ertönt. Es ist mein Handy, das kaputt ist und nicht mehr klingeln kann. Zunächst denke ich, es ist ein Anruf, und beachte es deshalb nicht. Aber es vibriert nur kurz, und ich begreife, dass es eine SMS ist. Ich hole das Handy aus der Tasche. Auf dem Display ist das kleine Symbol eines Briefumschlags zu sehen, und ich drücke die Taste, die ihn metaphorisch öffnet.
heute treff. wo?
Mist. Das habe ich vergessen. Patrick. Ich überlege rasch und sende zurück: Krypta Kathedrale 17 Uhr. Ich kann ihm keinen Korb geben. Ich habe das letzte Mal abgesagt, und wahrscheinlich wird er mich zum Essen einladen. Seine SMS sind nicht besonders gut formuliert, wenn man bedenkt, dass er Professor für Linguistik ist, aber andererseits ist er jemand, der auch seine E-Mails konsequent in Kleinbuchstaben schreibt, weil er glaubt, das sei hip. Ich treffe mich nun seit ungefähr drei Monaten mit Patrick, und in dieser Zeit haben wir weniger als zwölfmal miteinander geschlafen. Aber der Sex ist gut, intensiv, die Art Sex, die man nur mit einem älteren Mann haben kann, dem es egal ist, ob man am Ende heiratet oder nicht, die Art Sex, die man um ihrer selbst willen hat und nicht als Sicherheit für etwas, das einer der Beteiligten irgendwann einlösen will. Patrick ist natürlich schon verheiratet, und seine Frau hat ebenfalls ihre Affären, was mich davon abhält, wegen unseres Arrangements ein schlechtes Gewissen zu haben. Manchmal durchdenke ich die Logik dieser Verhältnisse und komme zu der Erkenntnis, dass es da draußen junge Männer geben muss – die Pendants zu mir –, die in großen Abständen Sex und etwas Gesellschaft wollen, aber ohne die Komplikationen von Liebe und Verpflichtungen. Würde ich mit einem dieser Typen ins Bett gehen, wenn ich ihn träfe? Wahrscheinlich nicht. Da ist irgendwas zu Glattes an jüngeren Männern. Und außerdem wissen ältere Männer wirklich, wie man fickt. Klingt ein bisschen primitiv, aber so ist es nun mal.
Ich glaube nicht, dass Saul Burlem verheiratet war, und vielleicht ist es ganz gut, dass er verschwunden ist: Ich war immerhin ein bisschen in ihn verknallt. Es ist eindeutig eine sehr schlechte Idee, mit dem eigenen Doktorvater ins Bett zu gehen, und ich hätte richtig Gefallen an ihm finden können, sofern man von seinen Büchern und seinen Online-Vorträgen irgendwelche Rückschlüsse ziehen kann. Ich wäre schon an dem Abend, als ich ihn kennenlernte, mit ihm nach Hause gegangen, ohne auch nur die geringste Gelegenheit gehabt zu haben, über irgendetwas nachzudenken. Ob er das wusste? Vielleicht wusste er auch, dass das keine so gute Idee gewesen wäre. Nachdem wir über meine Doktorarbeit geredet hatten, entschuldigte
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