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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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auf einer Wand; oder vielleicht viele Bilder. Falls ich nach links sähe, würde ich ein Bild sehen. Falls ich nach rechts sähe, ein anderes. Ein Philosoph könnte fragen, ob es tatsächlich ein anderes Bild hinter mir gäbe, eines, das ich nicht sehen kann, aber diesen Weg der Untersuchung werde ich erst einmal nicht einschlagen.
    Wenn man diese Art des Blicks auf die Welt akzeptiert: als Rahmen mit wahrnehmbaren, wenn auch verschwommenen Rändern, dann wird man leichter den veränderten Rahmen begreifen, durch den ich auf die Welt von Little Will sah. Denn Little Wills Rahmen enthielt auch meinen eigenen, der über ihn gelegt war. Das Ergebnis dieser Überlagerung war die Existenz einer milchigen Schattierung über allem, was ich sah, als ob ich durch ein dickes Glas oder einen dünnen Schleier sähe. Aber die Eigentümlichkeiten dieses neuen Rahmens erschöpften sich damit nicht. Der Rand meiner Wahrnehmung von Little Wills Gesichtsfeld war so ähnlich verschwommen wie der Rand eines normalen Gesichtsfelds. Aber das Verschwommene an den Rändern von Little Wills Rahmen wurde noch hervorgehoben durch die Existenz von Schichten mit kleinen Bildern, wie Spielkarten, die in einem Patience-Spiel ausgelegt worden sind, eine auf der rechten und eine auf der linken Seite. Es gab ein Merkmal dieser neuen Sehweise, das mich noch mehr verblüffte. Wenn Little Will einer anderen Person nahe kam und sie betrachtete, erschien ein Haus undeutlich hinter dem bereits milchigen Bild, das ich vor mir hatte. Ich vermutete, ohne es ganz zu begreifen, dass ich in diesen Momenten, wenn ich es wollte, einfach in das Haus gehen konnte, anstatt in dem zu bleiben, in dem ich gerade stand; mit anderen Worten, ich konnte einen anderen Verstand betreten. Zumindest war das die Theorie, die ich angesichts der Evidenzen entwarf, aber als ich sie an dem Knaben Peter ausprobierte, schien ich von einer unsichtbaren Wand abzuprallen und landete wieder auf dem kleinen Pfad, der die Landhäuschen miteinander verband.
    Wiederum überkam mich ein Gefühl des Friedens und der Fülle. Der Hunger, den ich verspürt hatte, als ich mit Little Will verbunden war, ließ sogleich nach, und mir wurde deutlich, dass es ungeheuer anstrengend ist, Zeit in der Seele eines anderen Menschen zu verbringen. Draußen in der offenen Landschaft empfand ich kein Unbehagen, aber ich erinnerte mich an das Gefühl von Entbehrung und Verzweiflung, das ich mit Little Will geteilt hatte. Ich schloss daraus, dass die weiteren Abenteuer, die ich so sehr ersehnte, am besten einem weiteren Besuch vorbehalten blieben, und daher ging ich wieder zu meinem Pferd und ließ mich von ihm zu der Stelle zurückbringen, an der ich diese Welt betreten hatte.
    Die Reise durch den Tunnel zurück schien diesmal von deutlich kürzerer Dauer, und bald darauf traf ich wieder auf der Platte in dem Jahrmarktszelt ein, falls das die richtige Formulierung ist, denn ein Beobachter hätte mich nicht weggehen sehen. Ich konnte wieder den Regen auf dem dicken Segeltuch hören, und ich bemühte mich darum, meine Augen der vertrauten Welt zu öffnen, die ich eine Zeit lang verlassen hatte. Mit noch halb geschlossenen Lidern und einem Kopf voller Phantasiebilder fragte ich mich, ob ich mir einen komplizierten Traum zusammengeträumt oder ob ich mir tatsächlich telepathischen Zutritt in den Geist eines anderen Menschen verschafft hätte, und beschloss, den Jahrmarktsarzt zu befragen, sobald ich meine fünf Sinne wieder beisammenhätte. Als ich jedoch meine Augen aufschlug, fand ich mich allein im Dunkeln wieder. Die geschmacklose Lampe, die vorhin hell geleuchtet hatte, war inzwischen ausgegangen. Der Arzt war nirgendwo zu sehen. Ich zog meine Uhr und eine Schachtel Zündhölzer aus meiner Tasche und stellte fest, nachdem ich eines davon angerissen und an das Zifferblatt gehalten hatte, dass es nach elf Uhr war. Bestürzt stand ich sogleich auf und tastete mich im Schein eines anderen Zündholzes aus dem Zelt heraus. Wie konnte ich nur so lange bewusstlos gewesen sein? Ich gebe zu, dass ich verängstigt war, als ich aus dem großen Theaterzelt in das Freie des finsteren, verlassenen Jahrmarktes herausstolperte. Ich war entschlossen, diesen Arzt zu finden und ihn zur Rede zu stellen, weil er mich so lang allein und schutzlos liegen gelassen hatte. Der Arzt war jedoch nirgendwo zu sehen, und weil ich inzwischen müde und äußerst hungrig war, machte ich mich zurück auf den Weg ins Regency Hotel und beschloss,

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