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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Geisterillusion zusammenpacken. Der Jahrmarkt würde am nächsten Morgen weiterziehen, und daher musste alles sorgfältig zerlegt und in einem großen Planwagen verstaut werden. Will fand die Vorstellung dieser Aufgabe, ganz wie ich selbst, recht überwältigend, und ich konnte seine Besorgnis und seinen Unmut gut nachvollziehen, als er seinen Untergebenen Befehle zubrüllte, denn in dem einen Moment wollte er, dass sie schneller machten, und im anderen, dass sie besser aufpassten. Ich verstand, warum er sich von seinem Assistenten Dan Roper betrogen fühlte, und ich wusste sofort, dass Peter, sein junger Helfer, für diese Aufgabe zu ungeschickt war. Ich glaube nicht, dass ich genau dieselben Gedanken dachte wie William Hardy, während das Zusammenpacken vor sich ging; ich kann nicht sagen, dass ich, wie primitiv auch immer, »seine Gedanken las«. Eher hatte ich auf die gleiche Weise Zugang zu seinen Erinnerungen, wie man auf die eigenen Erinnerungen zurückgreift. Bilder erschienen mir mit der Geschwindigkeit von Quecksilber. Ich sah zum Beispiel, wie der Pechvogel Peter eine große Glasscheibe zerbrach, und mir war klar, dass sich dieses Vorkommnis irgendwann in jüngster Zeit zugetragen hatte. Ich sah, wie Dan Roper mit einer Frau hinter ein schmutziges Jahrmarktszelt kroch. Dann sah ich Little Will mit derselben Frau. Natürlich sah ich ihn nicht von oben wie ein allgegenwärtiger Beobachter. Ich war seine Augen, seine Ohren, seine Nase und seine Haut, während er sich mit dieser Frau paarte, die gerade erst ein Mädchen war und, wie ich jetzt wusste, auf den Namen Rose hörte.
    Ich gebe zu, dass ich mich fast in dieser neuen Welt verirrte – wenn man Zugang zu den Gedanken eines andern Menschen hat, wer wäre da nicht versucht, endlos in ihnen herumzustöbern. Auf welchen anthropologischen oder biologischen Erkenntnissen beruhte es, dass ich in der Lage war, die Gedanken eines anderen Menschen zu lesen, als wäre er ein Theaterstück? Ich glaubte ernstlich, dass sämtliche Werke Shakespeares im Vergleich mit den Tragödien und Komödien, mit den Enttäuschungen und Begierden dieses einen Jahrmarktunternehmers recht dürftig waren. Dennoch erinnerte ich mich an meine Aufgabe. Ich war hier, im Kopf William Hardys, um die Geisterillusion zu verstehen, die er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt feilbot.
    In einem Nu war mir alles klar. Ich sah die komplizierte Anbringung der großen, kostspieligen Glasscheibe, die Little Will eigenhändig fünfmal am Tag polierte. Ich sah, wie sie ausbalanciert auf der Bühne stand, an einer Wand abgestützt oder durch eine Vorrichtung dahinter. Ich sah – und verstand – die Neigung von fünfundvierzig Grad. Ich besaß eine umfassende Kenntnis der Art, wie die Illusion zustande kam, von der schräggestellten Glasscheibe bis zu den Schauspielern darunter, die im Licht eines Vorführers tanzten und auf diese Weise Bilder wie umgekehrte Schatten erschufen, die durch das Glas reflektiert und auf die Bühne geworfen wurden. Ich verstand Little Wills Erstaunen, als er selber die Konstruktion dieser Lichtwesen entdeckte, und ich erinnerte mich so deutlich, als ob es eine Szene aus meiner eigenen Vergangenheit wäre, an den Abend, als Little Will das Buch aufschlug, das die Geheimnisse dieser Illusion offenbarte. Ich muss allerdings sagen, dass das Gefühl, ein Buch in der Erinnerung eines Menschen zu lesen, recht komisch war, und obwohl er viele Passagen vergessen hatte, die deshalb zu fehlen schienen, war ich in der Lage, die wichtigsten Abschnitte des Buches zu lesen, als hätte ich es vor den eigenen Augen.
    Es gibt einen Teil meines Abenteuers, den ich noch nicht beschrieben habe, weil ich befürchten muss, den Eindruck noch zu verstärken, dass ich an jenem Tage in dem Jahrmarktszelt meinen Verstand verloren habe. Ich muss diese Kuriosität jedoch nun berichten, und ich bitte den Leser ein weiteres Mal um Nachsicht. Was ich erzählen möchte, ist die Art und Weise, wie sich mein Gesichtsfeld änderte, wenn ich in dieser »spirituellen Welt« anderer Köpfe war. Zu Beginn wusste ich nicht im Geringsten, wie weit sich diese Welt ausdehnte, noch, wie weit in ihr mir zu reisen erlaubt sein würde. Bei diesem ersten Besuch jedoch wurden mir einige wichtige Faktoren klar, die ich nun zu beschreiben versuchen will. Wenn man die Welt unter normalen Umständen sieht, im Kommen und Gehen eines gewöhnlichen Tages, sieht man sie, als wenn sie einen Rahmen hätte. Die Außenwelt ist daher ein Bild

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