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Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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mich am folgenden Tage auf die Suche nach dem Arzt zu machen.
     

Kapitel sechs
     
    Um die Mittagszeit bin ich hungrig und verfroren und muss pinkeln. Vom Fenster meines Badezimmers sieht es so aus, als wäre die ganze Welt mit Dächern bedeckt und mit Hintertüren und Feuerleitern versehen, wie ein einziges, verwirrendes großes Puppenhaus. Ich kann die obere Hälfte von Luigis Hinterzimmer und die dunkle Metalltreppe sehen, über die man im Brandfall flüchten kann. Unter einem grauen Betondach ist der Hintereingang des indischen Restaurants. Ich kann einen Typen dort stehen sehen, der hastig eine Zigarette pafft und sich ständig umsieht, als ob er fürchtet, jeden Moment erwischt zu werden. Ich kann Gassen und kleine, ungleichmäßige Hinterhöfe sehen, aber hauptsächlich Dächer und Schornsteine, rote Ziegel und Beton, und plötzlich scheint mir das da draußen eher ein dreidimensionales Puzzle zu sein. Wie ist es nur möglich, so viele Gebäude auf so kleinem Raum zusammenzupferchen? Ich sinniere nicht zum ersten Mal darüber nach, von wie vielen Leuten ich ständig umgeben bin, auch wenn es mir oft so vorkommt, dass ich völlig allein bin. Ich frage mich, wie es wohl wäre, telepathisch mit anderen zu verkehren. Würde man sich dann weniger allein fühlen, oder würde es die Einsamkeit irgendwie nur schlimmer machen?
    Ich koche mir ein paar Linsen, dann ziehe ich mich auf die Couch zurück, balanciere den Teller im Schoß und setze die Lektüre von Mr. Ys Suche nach dem Jahrmarktsarzt fort. Als er am nächsten Tag zu dem Festplatz kommt, ist der ganze Jahrmarkt verschwunden, einschließlich des Arztes und seines seltsamen Tranks. Der arme Mr. Y. Er war sich so sicher gewesen, in diese andere Welt zurückkehren zu können, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich alles sorgfältig anzusehen, solange er noch darin war. Er fragt herum und findet heraus, dass die meisten Jahrmarktsleute an einen Ort in der Nähe des Sherwood Forest weitergezogen sind. Aber als er dort ankommt, kann er den Arzt nirgendwo entdecken. Und als er sich bei den Leuten erkundigt, ob sie den »Jahrmarktsarzt« gesehen hätten, sind die meisten verdutzt und versichern ihm, dass es einen solchen Mann nicht gebe.
    Als er wieder in London ist, beginnt sich Mr. Ys Interesse an alledem zu einer Obsession auszuwachsen. War ihm tatsächlich, wenn auch nur kurz, die Fähigkeit zuteilgeworden, Gedanken zu lesen (oder, wie er es nennt, telepathischen Zutritt zu anderen zu haben)? Oder hatte der Arzt ihm nur ein starkes Schlafmittel verabreicht? Er weiß es nicht, und er hat keine Möglichkeit, es herauszufinden. Aber er neigt zu der Auffassung, dass er wirklich die Gedanken von William Hardy gelesen hat. Und in der Tat gelingt es ihm, genau das Buch zu beschaffen und zu lesen, in dem Hardy sich über die Illusion von Peppers Geist informiert hat, und er stellt fest, dass seine »Erinnerung« daran (durch die Lektüre aus Little Wills Sicht) absolut korrekt ist. Da er weiß, dass man keine Erinnerung an ein Buch haben kann, das man nicht selbst gelesen hat, kommt er zu dem Schluss, dass an jenem Abend auf der Goose Fair etwas Übernatürliches mit ihm geschehen sein muss. Aber er weiß einfach nicht, was es war. Und da er keine angemessene Erklärung dafür hat, macht er etwas ganz und gar Viktorianisches und beginnt damit, die Teile der neuen Welt, denen er begegnet ist, zu etikettieren und zu klassifizieren. Dieser anderen Welt gibt er den Namen »Troposphäre«, den er bildet, indem er das Wort »Atmosphäre« – eine Kombination der griechischen Wörter für »Dunst« und »Kugel« – nimmt und die unbekannten Dünste durch etwas Solideres ersetzt: das griechische Wort für Gestalt, tropos. Mr. Y braucht länger, um einen Begriff für die Reise selbst zu finden, aber schließlich nennt er sie »Telemantie«: tele von dem griechischen Wort für fern und mantie von manteia, Weissagung. In seinen Augen war dies eine Weissagung aus der Ferne, und er wollte es unbedingt noch einmal machen.
    An dieser Stelle in der Geschichte erfahren wir etwas über Mr. Ys berufliche Situation. Sein im Londoner East End gelegener Stoffladen war einmal ein sehr erfolgreiches Unternehmen, aber mittlerweile scheint das Geschäft nicht mehr so gut zu gehen, und er muss einige seiner Angestellten entlassen. Ein Konkurrent hat direkt um die Ecke einen Laden eröffnet, und dort florieren die Geschäfte. Der Besitzer dieses Konkurrenzunternehmens, Mr. Clemency,

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